Im Interview mit «Global», dem Magazin der Organisation «Alliance Sud», zeigt Achim Steiner, der Leiter des UNO-Entwicklungsprogramms UNDP, Besorgnis über die abnehmende Unterstützung durch Länder aus dem Norden. Auch aus der Schweiz.
Herr Steiner, das UNDP stellt in seinem «Human Development Report 2024» fest, dass ungleiche Entwicklungsfortschritte die Ärmsten dieser Welt zurücklassen – das Gegenteil des Ziels der Agenda 2030, «niemanden zurückzulassen» («leaving no one behind»). Wo sehen Sie die grössten Hebel, damit sich die Schere nicht weiter öffnet?
Achim Steiner: Vor dem Hintergrund der Pandemie und der vielen Krisen und Konflikte ist die Bilanz auf den ersten Blick ernüchternd. Wir hatten uns mit der Agenda 2030 grosse Ziele gesetzt. Aber wie so oft macht man Pläne und es gibt Rückschläge. Wir dürfen allerdings nicht vergessen, dass es in den letzten Jahrzehnten auch enorme Fortschritte gab, die leider in der Öffentlichkeit nicht so wahrgenommen werden. 1995 hatten 16 Millionen Menschen Zugang zum Internet, 2025 werden es sechs Milliarden sein. Auch der Zugang zur Stromversorgung hat sich massiv verbessert. Die internationale Zusammenarbeit hat dazu einen wesentlichen Beitrag geleistet…
… und doch ist es ein schwacher Trost angesichts der multiplen Krisen weltweit.
Auch das stimmt. Wir stehen vor der Situation, dass die ärmsten Länder ihre Schulden nicht mehr tilgen können, so zum Beispiel Sri Lanka. Es gibt fast 50 Staaten, die mehr als 10% des Staatsbudgets nur für den Schuldendienst ausgeben. Deshalb erleben wir, dass in der Bildung und Gesundheit gekürzt wird, um die Zinsen zu zahlen. Das kann der Entwicklung nicht förderlich sein. Und wenn ein Land seine Bevölkerung nicht mehr mit Nahrungsmitteln und Treibstoff versorgen kann, gehen die Menschen auf die Strasse.
Gerade jetzt wären mehr Investitionen nötig. Und doch kürzen die Geberländer ihre Mittel…
Die reichen Länder der OECD geben nur gerade 0,37% ihres Bruttonationaleinkommens für die internationale Zusammenarbeit aus. Vor dem Hintergrund der enormen Aufgaben und Möglichkeiten unserer Zeit bereitet mir grosse Sorge, dass wir vor allem auch in den traditionellen Geberländern nicht die nötigen Mittel finden, um arbeiten zu können. Dies obwohl wir gezeigt haben, wie viel mehr wir miteinander erreichen können.
Was ist ihr Appell an die Politik?
Parlamentarier und Parlamentarierinnen müssen eine ehrliche Diskussion über die internationale Zusammenarbeit führen und erkennen, dass nationale Interessen zunehmend im globalen Kontext vertreten werden. Regierungen handeln mit politischem Opportunismus und das Sich-Abwenden von gemeinsamen Lösungen ist sehr kurzgedacht und letztlich verantwortungslos. Nehmen wir den Klimawandel: Da geht es nicht mehr darum, ob es ihn gibt, sondern wie wir in allen Ländern etwas dagegen tun können. Es ist ein Versagen, dass wir diese Zusammenhänge nicht klarer darstellen können, dass wir in vielen Ländern weiterhin auf fossile Energien setzen, statt die erneuerbaren zu fördern. Wobei wir wissen, dass inzwischen jedes Jahr Tausende Menschen in der Schweiz, in Deutschland und weiteren europäischen Ländern wegen der Hitze frühzeitig sterben.
Wird international wahrgenommen, dass auch die Schweiz ihr Engagement reduziert?
Bis vor fünf Jahren war die Schweiz ein Vorbild in der internationalen Zusammenarbeit: Sie erkannte die Wichtigkeit des Multilateralismus gerade für ein kleines Land. Leider hat die Schweiz ihre Beiträge an das UNDP sukzessive reduziert, auch wenn sie immer noch ein wichtiges Geberland ist. Die Handlungsspielräume der kleinen Länder tendieren ohne die Vereinten Nationen in Krisengebieten gegen Null. Die Schweiz hat seit ihrem Beitritt zur UNO eine strategische Rolle gespielt. Wenn sie sich zurückzieht, schwinden auch ihre Reputation und ihr Einfluss.
Welche Rolle spielt die zunehmende Polarisierung in der Welt?
Die Polarisierung verhindert die internationale Zusammenarbeit und führt in eine Sackgasse. Meine grösste Sorge ist, dass die Welt zunehmend auseinanderdriftet, anstatt zu kooperieren. Im letzten Jahr wurden 2‘443 Milliarden Dollar für die Verteidigung und das Militär ausgegeben. Das ist nicht nur ein historischer Rekord, sondern auch ein Zeichen, dass die Konfrontation zunimmt. Dafür gibt es konkrete Anlässe wie der Krieg in der Ukraine und Konflikte in Myanmar oder Sudan. Die Probleme der Welt sind aber nur lösbar, wenn die verschiedenen Länder trotz unterschiedlicher Interessen ein gemeinsames Handeln finden, sei es bei der Prävention der nächsten Pandemie, bei der Cybersecurity oder beim Klimawandel.
Was für Auswirkungen hat der Krieg in der Ukraine auf die Arbeit des UNDP?
Im Unterschied zu den politischen Instanzen der UNO, wie zum Beispiel dem Sicherheitsrat, haben wir den Vorteil, dass wir in allen Ländern der Welt als Partner willkommen sind. Es ist erstaunlich, mit welchem Vertrauen wir in den Partnerländern empfangen werden, vor allem weil wir keine Eintagsorganisation sind. Wir begleiten gewisse Länder seit Jahrzehnten und diese Kooperationen zeigen, dass internationale Zusammenarbeit nicht unbedingt politisiert werden muss, sondern ein Angebot darstellt, um den eigenen Entwicklungsweg zu begleiten. Ich erlebe es gerade mit Bangladesch, wo wir über Jahre mit verschiedenen Regierungen zusammengearbeitet haben. Auch in der aktuellen Krisensituation mit der Übergangsregierung von Muhammad Yunus ist die Zusammenarbeit mit dem UNDP nicht in Frage gestellt worden. Das Versprechen der UNO, dass die Länder auf das UNDP zählen können, um den Gedanken der internationalen Zusammenarbeit sehr konkret umzusetzen, bleibt ein positives Element.
Und trotzdem kämpft auch das UNDP mit finanziellen Sorgen.
Die Suche nach Finanzierungsquellen wird immer scheitern, wenn wir nicht ein grundlegendes Vertrauen in internationale Institutionen haben. Leider gerät die UNO immer wieder ins Kreuzfeuer nationaler Kritik, zum Beispiel bezüglich Gaza. Es bereitet uns Sorgen, dass sich viele Länder mit zweifelhaften Argumenten bilateralisieren und aus dem Multilateralismus zurückziehen. So hat zum Beispiel Grossbritannien seine bereitgestellten Gelder drastisch gekürzt, um die Asylkosten im Inland zu finanzieren. Das hat uns in Schwierigkeiten gebracht, weil eine Organisation wie das UNDP eine solide Kernfinanzierung braucht, um transparent, wirksam und rechenschaftspflichtig zu handeln. Noch 1990 waren 50% der Mittel ungebundene, frei verfügbare Mittel, heute sind es nur 11% des Umsatzes. So etwas kann eine Organisation auf Dauer nicht halten. Wir verlieren so eine der wichtigsten Plattformen überhaupt, die in einer spannungsgeladenen Welt trotzdem noch Kooperationen ermöglicht.
Warum hat die IZA in den letzten Jahren an Glaubwürdigkeit verloren?
Internationale Zusammenarbeit ist kein Labor, sondern der Versuch, Lösungen oft unter schwierigsten Umständen zu finden. 50% der Arbeit findet in Krisengebieten statt: Jemen, Afghanistan, Myanmar sind alles hochriskante Regionen, wo wir versuchen, Leben zu retten. Dass nicht immer alles wie geplant läuft oder sogar etwas schiefläuft, ist einfach Realität. Leider ist die Bereitschaft der Geber, auch Rückschläge mitzutragen, sehr gering.
Haben Sie eine Vermutung, weshalb die Entwicklungszusammenarbeit immer wieder mit Falschaussagen und zu hohen Ansprüchen konfrontiert ist?
Es gibt leider eine konzertierte Offensive gegen die IZA, von den USA über Skandinavien bis in die deutschsprachigen Länder. Es ist eine politische Kampagne, die versucht, die internationale Zusammenarbeit in nationalen Kontexten zu delegitimieren, zum Beispiel die von Deutschland unterstützten Fahrradwege in Peru, die in vielen Medien breitgeschlagen wurden. Diese Beispiele verzerren den Blick, aber es ist auch unsere Bringschuld, unsere Arbeit besser und verständlicher zu vermitteln.
Haben Sie eine positive Botschaft zum Schluss?
Die Vereinten Nationen stellen über ihr Welternährungsprogramm (WFP) jedes Jahr Nahrungsmittelhilfe für rund 115 Millionen Menschen bereit. Das ist nur möglich dank Mut, internationaler Solidarität und dem Einsatz unserer Mitarbeitenden und Partner vor Ort.
Kurz und Kräftig. Die wöchentliche Dosis Aussenpolitik von foraus, der SGA und Caritas. In der Ausgabe Nr. 466, November 2024, steht die Migrationsvereinbarung der EU mit Tunesien im Fokus. Zahlreiche Flüchtlinge sind unmenschlichen Bedingungen und Abschiebungen in Wüstengebiete ausgesetzt, was zu Spannungen auf der geopolitischen Ebene führt. Espresso Nr. 466 | 19.11.2024
Neue Beiträge von Joëlle Kuntz (La neutralité, le monument aux Suisses jamais morts) sowie von Martin Dahinden und Peter Hug (Sicherheitspolitik der Schweiz neu denken - aber wie?)
Livre (F), Book (E), Buch (D)
Das Schweizer Mandat im UNO-Sicherheitsrat (2023 und 2024) fällt in turbulente Zeiten, der Rat hat Schwierigkeiten, in den grossen Fragen Entscheide zu fällen. Jeden Samstag fassen wir das Ratsgeschehen und die Haltung der Schweiz zusammen.
Infoletter «Schweiz im Sicherheitsrat» abonnieren Alle Berichte FAQ – Schweiz im Sicherheitsrat