Interview

Wo die Schweiz im Sicherheitsrat ein Zeichen setzen könnte: Der Fall Rohingya

Vor sieben Jahren flüchteten Hunderttausende Angehörige der Rohingya-Minderheit aus Myanmar nach Bangladesch, um der Vertreibung durch das Militär zu entgehen. SGA-Mitglied René Holenstein sprach mit Manzoor Hasan, Direktor des Center for Peace and Justice der BRAC-University in Dhaka, über die aktuelle Situation.

Mehr als 700 000 Rohingya flohen Ende August 2017 vor einer Militäroffensive in Myanmar, die die Vereinten Nationen als «Lehrbuchbeispiel für ethnische Säuberungen» bezeichneten. Was war der Auslöser für diese Fluchtbewegung?

Manzoor Hasan: Die Rohingya sind eine muslimische Minderheit in Myanmar und seit Jahrzehnten Opfer von systematischer Diskriminierung, Staatenlosigkeit und gezielter Gewalt. Das Burma Citizenship Law aus dem Jahr 1982 entzog ihnen die Staatsbürgerschaft. Diese diskriminierende Gesetzgebung ist bis heute in Kraft. Seit der Unabhängigkeit Burmas im Jahr 1948 eskalierte die Verfolgung der Rohingya mehrmals. Bereits vor 2017 kamen zu vier grossen Fluchtbewegungen nach Bangladesch.

Was genau geschah im August 2017?

Diese bisher grösste Fluchtwelle wurde angeblich durch Angriffe von bewaffneten Rohingya-Einheiten auf Polizei- und Armeeposten in Myanmar ausgelöst. Darauf gingen die staatlichen Sicherheitskräfte mit Gewalt und Terror gegen die Rohingya-Gemeinschaft vor. Nach vorliegenden Informationen aus glaubwürdigen Quellen töteten die Streitkräfte im Rahmen einer sogenannten «Säuberungsaktion» 7803 Menschen, und viele Frauen und Mädchen wurden vergewaltigt.

Welche Rollen spielen China, Russland und die USA? Und was ist mit Europa?

China positionierte sich eher als Vermittler und initiierte mehrere Gesprächsrunden zwischen Myanmar und Bangladesch, um den Rückführungsprozess der Flüchtlinge in Gang zu setzen. Allerdings wird das Engagement Chinas nach Ansicht von Beobachtern hauptsächlich von wirtschaftlichen Interessen geleitet und weniger von einer echten Sorge um die Rohingya. Chinas diplomatische Bemühungen haben bisher kaum zu konkreten Ergebnissen geführt.

Und Russland?

Die Beziehungen zwischen Russland und Myanmar gewinnen aufgrund der Bemühungen Myanmars, seine Abhängigkeit von China zu verringern, an Bedeutung. Wie China weigert sich Russland, das Militär Myanmars zu kritisieren und unterstützt die Regierung auf internationaler Ebene. So verhinderten China und Russland 2022 eine Erklärung des UNO-Sicherheitsrats, in der dieser seine Besorgnis über die Gewalt und die gravierende humanitäre Lage in Myanmar sowie über die nur «begrenzten Fortschritte» bei der Umsetzung eines regionalen Plans zur Wiederherstellung des Friedens in dem von Unruhen zerrissenen südostasiatischen Land zum Ausdruck brachte.

Was halten Sie von Russlands immer radikaleren Weltsicht?

Russlands Haltung wird von seiner übergeordneten Strategie beeinflusst, die Hegemonie des Westens herauszufordern oder zumindest sein Image als Widersacher der westlichen Dominanz aufrechtzuerhalten. Dies hat zu einem chaotischeren multipolaren System geführt. Ein Beispiel dafür ist der Krieg in der Ukraine, der erhebliche wirtschaftliche und diplomatische Auswirkungen auf das globale Geschehen hat. Letztlich führt dies zu einer stärker polarisierten Weltordnung und mehr Flüchtlingen. Im Fall von Myanmar wird sich Russland nicht gegen China stellen und weiterhin sein Vetorecht nutzen, um Resolutionen im UNO-Sicherheitsrat zu blockieren, die sich kritisch mit der Lage in Myanmar beschäftigen.

Und der Westen?

Die USA und Europa haben die Gräueltaten und die ethnische Gewalt, die das Militär Myanmars gegen die Rohingya verübt hat, deutlich verurteilt und auf eine Aufarbeitung der Verbrechen durch internationale Institutionen gedrängt. Im Jahr 2022 stuften die USA die Militäraktionen Myanmars gegen die Rohingya-Minderheit offiziell als «Völkermord» ein. Menschenrechtsorganisationen und Vertreter von Minderheiten hatten sich jahrelang dafür engagiert. Die EU setzte sich immer wieder für die Wiederherstellung der Demokratie in Myanmar ein, insbesondere seit dem Militärputsch von 2021. Die EU ist nach wie vor ein wichtiger Geber für die konfliktbetroffenen Menschen, einschliesslich der Rohingya-Flüchtlinge.

Besteht die Gefahr, dass der Konflikt in Myanmar auf das Territorium von Bangladesch übergreift?

Das ist bereits wiederholt geschehen. So explodierte beispielsweise im Februar dieses Jahres eine Mörsergranate in Bangladesch, die Berichten zufolge aus Myanmar abgefeuert worden war. Dabei starben mindestens zwei Personen, darunter ein Rohingya, und weitere wurden verletzt. Da die Kämpfe im myanmarischen Bundesstaat Rakhine weiter eskalieren, sind seit Mai dieses Jahres weitere Zehntausende Rohingya nach Bangladesch geflohen. Diese Vorfälle erschweren die Bemühungen um eine sichere und nachhaltige Rückkehr der Flüchtlinge nach Myanmar.

Welche Lösungen – wenn überhaupt – gibt es?

Eine Lösung kann nur auf diplomatischem Weg erfolgen. Es müssen Möglichkeiten für einen stärkeren Dialog und ein grösseres Engagement zwischen den beteiligten Hauptakteuren geschaffen werden, nicht nur, um die Ursachen der Massenvertreibung der Rohingya anzugehen, sondern auch, um die Spannungen zwischen den ethnischen Gruppen in Myanmar abzubauen. Ausserdem muss sich die internationale Gemeinschaft ihrer Verantwortung im Rahmen der Flüchtlingskonvention von 1951 und des dazugehörigen Protokolls von 1967 sowie des Global Compact on Refugees und anderer einschlägiger Dokumente stärker bewusst sein. Dazu gehört, dass sich die Länder aktiver an der Lastenteilung beteiligen, um eine ausreichende Unterstützung und den Schutz für die Rohingya-Flüchtlinge zu garantieren. Die internationale Gemeinschaft muss anerkennen, dass Bangladesch, ein Land mit sehr begrenzten Ressourcen, bisher sehr viel getan hat, um die fast eine Million Flüchtlinge auf seinem Territorium zu unterstützen. Es sollten auch Möglichkeiten für die Aufnahme von Rohingya in Drittländern, insbesondere in Industrienationen, geprüft werden.

Was erwarten Sie diesbezüglich von der Schweiz?

Die Schweiz kann ihre langjährigen Beziehungen zu Myanmar, Bangladesch und anderen wichtigen Akteuren in Asien wie China und Indien nutzen, um eine weitere Eskalation der Gewalt in Myanmar zu verhindern und eine dauerhafte Lösung für die Rohingya zu ermöglichen. Nebst humanitärer Hilfe kann sie den diplomatischen Austausch zwischen den Akteuren fördern und in den internationalen Organisationen dafür eintreten, dass die Schuldigen für die Verbrechen zur Rechenschaft gezogen werden und den Opfern Gerechtigkeit widerfährt. Schliesslich kann die Schweiz in Myanmar und Bangladesch Initiativen unterstützen, die Demokratie, gute Regierungsführung und sozialen Zusammenhalt fördern.

 

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