Am GESDA-Gipfel in Genf erörtern Wissenschafter und Diplomaten die Trends, die unser Leben in einem Vierteljahrhundert bestimmen werden – und wie eine vernünftige Weltgemeinschaft sie in Griff nehmen könnte.
Rund tausend Personen aus Wissenschaft, Wirtschaft, Diplomatie, Politik und «Zivilgesellschaft» debattieren vom 12. bis 14. Oktober in Genf (und am Bildschirm), was in der kommenden Generation auf die Welt zukommt. Der «Geneva Science and Diplomacy Anticipator” (GESDA) – eine vom Bund und vom Kanton Genf gegründete, mehrheitlich aus der Philanthropie finanzierte Stiftung – veranstaltet ihren zweiten Gipfel. Es werden die neuen Erkenntnisse des “Science Breakthrough Radar” vorgestellt, der die wesentlichen wissenschaftlich-technologischen Entwicklungen in den kommenden 5 bis25 Jahren aufspürt, und es werden Lösungsansätze für ihre Nutzung im Sinne der «nachhaltigen Entwicklung» erörtert. In Partnerschaft mit der kalifornischen Stiftung XPrize (Finanzierung von «radical breakthroughs for the benefit of humanity») wird GESDA einen globalen Wettbewerb für die beste Idee ausrichten, wie die Quantencomputer-Technologie für die Erreichung der UNO-Ziele für nachhaltige Entwicklung (Agenda 2030) eingesetzt werden kann. Ideen, die aus diesem Wettbewerb hervorgehen, sollen dann in einem GESDA-eigenen Impact Hub «inkubiert» werden (Entwicklung bis zur Ausführungsreife).
Im vergangenen Frühjahr hat sich der Bund nach Ablauf einer Pilotphase längerfristig hinter das Projekt gestellt. Für die nächsten zehn Jahre unterstützt er GESDA mit jährlich 3 Millionen Franken – rund ein Drittel des Kernbudgets. Der Rest kommt aus philanthropischen Quellen, hauptsächlich grossen gemeinnützigen Stiftungen. Präsident der Stiftung ist der ehemalige Nestlé-Chef Peter Brabeck. In der Schweiz ist Botschafter Alexandre Fasel, Sondervertreter für Wissenschaftsdiplomatie, der zuständige Diplomat. Er erklärt Sinn und Zweck des Unterfangens in einem Dreischritt. Erstens seien wir Zeugen einer gewaltigen Erweiterung und Beschleunigung von Wissen und Technologie, die alle Bereiche des Lebens berühre: «Künstliche Intelligenz, human augmentation, Geo-Engineering, die Quantenrevolution werden die Menschen, die Gesellschaften, den Planeten – die Welt, wie wir sie kennen – verändern.». Zweitens, sagt Fasel, werde die Umwälzung auch erfassen «wie die Welt sich organisiert». Und es sei nicht gegeben, dass die neuen Technologien notwendigerweise zum Vorteil aller eingesetzt werde, sondern im Gegenteil auch möglich, dass sie monopolisiert, exklusiv und machtpolitisch verwendet würden. Deshalb sei es, drittens, notwendig zu prüfen, wie die bevorstehenden Veränderungen zum Nutzen aller, für good global governance, eingespannt werden können. Die «Bewirtschaftung der globalen Allmend», nennt es Fasel: «Die internationale Gemeinschaft muss in der Lage sein, ein Ahnungsvermögen für die technischen Entwicklungen und wissenschaflichen Durchbrüche der Zukunft zu entwicklen, auf dass sie ihre Handlungsfähigkeit und ihr Gestaltungsvermögen zur Bewirtschaftung der globalen Allmend bewahrt». Erst wenn verstanden werde, «was auf uns zukommt», könne versucht werden, entstehende Technologien in den Griff zu nehmen, von ihnen zu profitieren und unheilvolle Entwicklungen abzuwenden.
Hier komme die Schweiz ins Spiel: «Das Interesse an globaler Organisation, globaler Gouvernanz hat für uns absolute Priorität». Und als Gaststaat des internationalen Genf («salle des machines du système international») sei die Schweiz nicht nur prädestiniert, eine führende Rolle zu übernehmen, sondern habe auch ein Interesse daran.
Deshalb GESDA. Der Leitgedanke sei Artikel 27 der Universalen Erklärung der Menschenrechte, sagt Botschafter Fasel. Er zitiert: «Jeder hat das Recht, …am wissenschaftlichen Fortschritt und dessen Errungenschaften teilzuhaben.» GESDA ist als «Plattform» in verschiedenen «Foren» organisiert, in denen Austausch, Diskussion und Konkretisierung und Beschleunigung der Debatte stattfinden. Ausserhalb der formellen Vorgänge in internationalen Organisationen, wo «im Verhandlungsmodus» agiert werde, sei GESDA ein geschützter Raum für die «Reifung und Gärung» von Ansätzen und Lösungen. Fasel nennt das Beispiel des Quantencomputing. In ungefähr zwanzig Jahren wird es Maschinen – Quantencomputer – geben, welche das Leistungsvermögen heutiger Supercomputer um unfassbare Dimensionen überschreiten. Wer sie kontrolliert, wird neuartige Macht besitzen: «Das Spiel wird neu ausgegeben». Wie sie zum allgemeinen Nutzen eingesetzt werden können, ist ein Hauptthema von GESDA. In den Diskussionsforen werden führende Wissenschaftler und Diplomaten versammelt, um mögliche Anwendungsfälle zu erörtern. Einer betrifft ARM (anti-microbial resistance) die wachsende Resistenz von Krankheitserregern gegen Medikamente. Quantencomputing könnte es möglich machen, wirksame Moleküle zu berechnen, zum Beispiel solche, die in der Lage sein könnten, Spuren von Antibiotika aus dem Wasser herauszufiltrieren. Heute werden neue Materialien in langwierigen Laborversuchen entwickelt.
Soweit Anspruch und Theorie von GESDA. Die Praxis findet in einem auf Konflikt bedachten und fragmentierten Feld statt, das auch technische Institutionen und den Wissenschaftsbetrieb ergreift. Die Vorstellung einer interessenunabhängigen, dem globalen Guten verpflichteten Wissenschaft ist – so sie denn je der Realität entsprach (Stichwort «Atome für den Frieden») – heute ziemlich weltfremd. Die COVID-Pandemie die Weltgesundheitsorganisation (WHO) in Genf einem politischen Stresstest unterzogen, den sie nicht unbeschadet überstand. Die US-Regierung griff die WHO frontal an, und China kontrollierte den freien Zugang und die freie Berichterstattung von WHO-Experten auf eine Weise, die dem Verständnis von wissenschaftlicher Freiheit widerspricht. Nach dem russischen Einmarsch in der Ukraine hat das Genfer Atomforschungszentrum CERN den russischen Beobachterstatus sistiert.
Am GESDA-Gipfel ist zum ersten Mal auch eine «politische Bewertung» der Ergebnisse angesetzt. Bundespräsident Cassis und Martina Hirayama, die Staatssekretärin für Bildung und Forschung, werden die Schweiz vertreten, eine Reihe von Aussen- und Forschungsministerinnen und -ministern sind dabei. GESDA sei eine der wenigen Initiativen, welche der Fragmentierung und Politisierung entgegenwirke, sagt Botschafter Fasel: «Wir versuchen, die Staaten und die internationalen Organisationen in die Konversation zu ziehen».
Spielt die schweizerische Neutralität eine Rolle? Im «untechnischen», das heisst nicht auf kriegerische Konflikte bezogenenen Verständnis ja, sagt Fasel. Wenn das Profil eines Staats gemeint sei, der keine agenda cachée, sondern die Ziele der UNO-Charta im Sinne habe, sei «Neutralität» für das Zustandekommen der Initiative wichtig. Damit seien der Bund und der Kanton Genf erstklassige Garantoren der Plattform: «GESDA konnte nur hier passieren».
Der GESDA (Geneva Science and Diplomacy Anticipator) Summit 2022 an dem der Science Breakthrough Radar jährlich präsentiert wird, findet am 12. bis 14. Oktober in Genf statt. Zur Online-Teilnahme hier klicken.
Kurz und Kräftig. Die wöchentliche Dosis Aussenpolitik von foraus, der SGA und Caritas. In der Ausgabe Nr. 466, November 2024, steht die Migrationsvereinbarung der EU mit Tunesien im Fokus. Zahlreiche Flüchtlinge sind unmenschlichen Bedingungen und Abschiebungen in Wüstengebiete ausgesetzt, was zu Spannungen auf der geopolitischen Ebene führt. Espresso Nr. 466 | 19.11.2024
Neue Beiträge von Joëlle Kuntz (La neutralité, le monument aux Suisses jamais morts) sowie von Martin Dahinden und Peter Hug (Sicherheitspolitik der Schweiz neu denken - aber wie?)
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