Im neuen Caritas-Almanach wird begründet, weshalb Produktivitätssteigerungen und Weltmarktintegration das Hungerproblem nicht nachhaltig lösen könnten. Mehr verspreche ein agroökologisch bestimmter Umbau des ganzen Systems «vom Acker bis zum Teller».
Die weltweite Nahrungsmittelproduktion ist zwar rascher gewachsen als die Bevölkerung, aber immer noch leidet jeder neunte Mensch unter chronischem Hunger, und die absolute Zahl der Unterernährten ist in den letzten Jahren wieder über 800 Millionen gestiegen. Aus gutem Grund widmet daher Caritas Schweiz ihr entwicklungspolitisches Jahrbuch der «Ernährungskrise». Der Begriff steht nicht etwa für eine konjunkturelle oder sonst wie vorübergehende Erscheinung, und die harten Folgen der Corona-Pandemie konnten in der Publikation noch nicht berücksichtigt werden. «Krise» steht vielmehr dafür, dass die bisher dominierenden Strategien in der Sicht der Autorinnen und Autoren die Probleme nur teilweise vermindern und auch negative Wirkungen haben. Das Bild verschlechtert sich zudem dann, wenn nicht allein auf die pro Kopf verfügbare Energie, die Kalorienzahl, abgestellt wird. Denn der «hidden hunger», die erst spät an Symptomen erkennbare mangelhafte Versorgung mit Vitaminen, Mineralen und Spurenelementen, namentlich Eisen, ist teilweise noch weiter verbreitet als die Unterernährung und kann die gesundheitliche wie auch die kognitive Entwicklung von Kindern schwer beeinträchtigen. Die Perspektiven scheinen schon daher beängstigend, weil das fruchtbare Land aus mehreren Gründen schwindet.
Kehrseiten der Intensivierung
Die Beiträge von Fachleuten vor allem aus NGO nehmen grundsätzlich nicht nur die landwirtschaftliche Produktion in den Blick, sondern das ganze Ernährungssystem einschliesslich Verarbeitung, Vermarktung und Verbrauch. Die Intensivierung der Bodennutzung, die lange im Vordergrund stand, wird nicht als zielführend beurteilt, da sie punkto Ertragssteigerung an Grenzen stosse und die Umwelt – Bodenqualität, Wasserhaushalt, Artenvielfalt und Klima – so schädige, dass sie die eigenen Grundlagen gefährde. Die Stellung der Kleinbauern, die ja paradoxerweise die Mehrheit der Unterernährten ausmachen, verbessert sich nicht. Sie können namentlich das Geld für Pestizide und Dünger kaum aufbringen und haben oft ungenügenden Zugang zu Märkten.
Die Gefahr, dass die ärmeren Produzenten an den Rand gedrängt werden, besteht zudem bei der Integration in den globalen Markt. So kommt nach der Analyse eines Autors der Einbezug in internationale Wertschöpfungsketten nur für eine Minderheit von Bauern infrage, weil für die einschlägigen Produkte zu hohe Standards gälten. Kritisch wird auch das Beispiel einer öffentlich-privaten Partnerschaft (Reisanbau in Ghana) beleuchtet: Unter anderem habe das Unternehmen, von der öffentlichen Seite mangelhaft kontrolliert, die Angestellten sehr mager entlöhnt und es zugelassen, dass von den Entschädigungen für das abgetretene Land vor allem die Dorfvorsteher und ihre Clans profitierten. Immer wieder wird eine Asymmetrie der Machtverhältnisse als tiefere Ursache nicht nachhaltiger «Lösungen» betont. Die Unternehmenskonzentration im Handel sowie im Bereich von Saatgut und Agrochemikalien verbindet sich mit einer vertikalen Integration («From Farm to Fork») und weckt ernste Bedenken, selbst wenn man kein Feindbild von Konzernen pflegt.
Agrarökologie auf der ganzen Linie
Als Ausweg skizziert der Sammelband – im Sinn des Weltagrarberichts von 2008 – eine von der Agrarökologie ausgehende Transformation des ganzen Ernährungssystems. Eine nichtindustrielle, aber keinesfalls vorindustrielle Landwirtschaft soll auf bäuerlichen Betrieben, Gleichstellung der Frauen beim Landbesitz, natürlichen Kreisläufen und Vielfalt aufbauen; neben traditionellem Wissen brauche sie moderne Forschung. Eine Spezialisierung der Produktion kann Teil dieser Strategie sein. Wertschöpfungsketten wären indessen nach dem Konzept «Märkte für die Armen» zu entwickeln, also primär im Binnenmarkt und unter Beteiligung aller lokalen Akteure. Ein von Caritas und Swissaid ausgeführtes Projekt der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit in Tschad fördert die Verwertung von Karité-(Shea-)Nüssen, Erdnüssen und Sisal durch Stärkung von Kooperativen sowie Schulungen in Bereichen wie Lagerhaltung, Verarbeitung oder Geschäftsführung. Angestrebt wird auch ein Export.
Ertragseinbussen gegenüber der Intensivlandwirtschaft werden angesichts der ökologischen Vorteile hingenommen und in ihrer Bedeutung damit relativiert, dass von den weltweit produzierten Gütern – ganz abgesehen von den enormen Verlusten zwischen Ernte und Konsum – grosse Teile als Tierfutter, Treibstoff oder Industriematerialien dienen. Damit rückt der Fleisch- und Milchkonsum in den Fokus, und zwar nicht nur dessen Übermass im wohlhabenden «Norden», sondern auch die Zunahme in den Mittelschichten aufstrebender Länder. Zielkonflikte werden in den Buchbeiträgen eher diskret behandelt, erwähnt wird etwa das Spannungsfeld von Bioenergie, Biodiversität und Ernährungssicherheit. Zumal wenn ein Autor auf Einwände entgegnet, von einer hundertprozentig biologischen Produktion sei man ohnehin sehr weit entfernt, müsste die «andere Seite», Verfechter der «industriellen» Ernährungswirtschaft, wohl auch zu Wort kommen. Der Caritas-Almanach ist insofern recht monologisch, aber dennoch ein substanzieller Beitrag zur Nachhaltigkeitspolitik.
Almanach Entwicklungspolitik 2021. Wege aus der Ernährungskrise. Caritas-Verlag, Luzern 2020. 258 S., Fr. 39.-.
Kurz und Kräftig. Die wöchentliche Dosis Aussenpolitik von foraus, der SGA und Caritas. In der Ausgabe Nr. 466, November 2024, steht die Migrationsvereinbarung der EU mit Tunesien im Fokus. Zahlreiche Flüchtlinge sind unmenschlichen Bedingungen und Abschiebungen in Wüstengebiete ausgesetzt, was zu Spannungen auf der geopolitischen Ebene führt. Espresso Nr. 466 | 19.11.2024
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