Kolumne

Vor 50 Jahren: Freihandelsabkommen – Europapolitik à la suisse

Mit dem Abschluss eines Freihandelsabkommens mit der EWG hatte die Schweiz 1972 ein wichtiges Ziel ihrer Europapolitik erreicht. Für die erhoffte Weiterentwicklung der Beziehungen war der Zollabbau jedoch kein Modell.

«Das Ergebnis kann man als Meilenstein in der schweizerischen Integrationspolitik bezeichnen (. . .), weil eine Entwicklung ihren Abschluss gefunden hat, die auf den Beitritt der Schweiz zur OECD 1948 zurückgeht.» Paul R. Jolles, Direktor der Handelsabteilung und Leiter der Verhandlungen über das Freihandelsabkommen, war nach dem Abschluss 1972 zufrieden. Zwei Drittel des schweizerischen Aussenhandels würden in absehbarer Zeit zollfrei in einem grossen westeuropäischen Markt abgewickelt werden können. Die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG, heute EU) war entgegen ihrer früheren Position bereit gewesen, ihre Zollunion und interne Liberalisierung mit einem Freihandelsregime gegenüber EFTA-Staaten zu verbinden. Den Anlass dazu gab die erste Erweiterung der Sechsergemeinschaft. Grossbritannien, ein Schlüsselmitglied der European Free Trade Association, und Dänemark wechselten in die EWG, der sich ausserdem Irland anschloss, und sollten ihre bisherigen Freihandelspartner nicht verlieren.

Weiterreichende Perspektiven

Im Rückblick fällt auf, wie zügig es mit der Sache voranging. Ende 1969 hatte der EWG-Ministerrat den (verbleibenden) EFTA-Staaten «besondere Beziehungen» in Aussicht gestellt, ein Jahr später begannen Erkundungsgespräche, und die eigentlichen Verhandlungen konnten nach einigen Monaten am 21./22. Juli 1972 abgeschlossen werden. Die resultierenden Dokumente umfassten rund 250 Seiten. Schlag auf Schlag folgten die Botschaft des Bundesrats, die Beratung im Parlament und der (in der Verfassung nicht vorgesehene) Volksentscheid. 72,5 Prozent der Stimmenden sagten am 3. Dezember Ja. Anfang 1973, gleichzeitig mit den drei Beitritten zur EWG, traten die Freihandelsabkommen mit Island, Österreich, Portugal, Schweden und der Schweiz in Kraft.

Aufbruchstimmung herrschte auch insofern, als in Bern europapolitische Vorstellungen bestanden, die weit über den Freihandel mit Industriegütern hinausreichten. Die Schweiz wünsche «ein Nahverhältnis zu den Europäischen Gemeinschaften herzustellen», sagte Bundesrat Ernst Brugger in Brüssel, als es um die Sondierungen ging. Als mögliche «Gesprächsgegenstände» nannte der freisinnige Wirtschaftsminister neben dem Zollabbau – unter Vorbehalten auch für Landwirtschaftsgüter – etwa Dienstleistungen, Niederlassungsfragen (Migration), technische Handelshemmnisse und das Heilmittelrecht. Zu prüfen sei auch eine Zusammenarbeit in der Wirtschafts- und Währungspolitik sowie in der Forschung.

Die Forderung nach Mitwirkung

Nicht in Frage kam für die Schweiz hingegen ein Einbezug in die Zollunion (mit gemeinsamen Aussenzöllen). Das Festhalten an einer eigenen Aussenwirtschaftspolitik gegenüber Drittstaaten begründete Brugger nicht mit ökonomischen Interessen, sondern mit der Glaubwürdigkeit der Neutralitätspolitik: Sie «setzt Beschränkungen der nationalen Hoheitsrechte entsprechende Grenzen».

Souveränitätsfragen stellten sich auch bei einer Angleichung des Rechts, die in einigen der genannten Bereiche wohl unumgänglich gewesen wäre. Bern legte denn auch Wert auf eine «gestaltende Mitwirkung» bei der Rechtsetzung der EWG, wenn sich daraus neue Verpflichtungen für die Schweiz ergäben. Die Formel ist von manchen belächelt worden. Jolles scheint aber keineswegs naiv gewesen zu sein. Die Schwierigkeit, als Nichtmitglied ein Mitspracherecht in der Gemeinschaft zu erhalten, war ihm bewusst. Nach Dieter Freiburghaus («Königsweg oder Sackgasse?», 2009/2015) war die Zielsetzung taktisch bedingt. Mit dem Ruf nach einem umfassenden Abkommen wollte Jolles dem Verdacht des «Rosinenpickens» entgegentreten, zugleich konnte er mit dem Mitgestaltungspostulat Brüsseler Forderungen nach Rechtsharmonisierung kontern. Innenpolitisch liess die Klarheit über das Fremdbestimmungsproblem die erreichte begrenzte Lösung positiver erscheinen. Das heisst nicht, dass man in Bern das Abkommen allgemein als Endpunkt betrachtet hätte.

Die EWG/EU unterschätzt

Immerhin entsprach es einem Anliegen der Schweiz, dass eine «Entwicklungsklausel» die Ausdehnung der Beziehungen auf neue Bereiche als Möglichkeit festhielt. Als ein solches zusätzliches Abkommen ist jenes über Schadensversicherungen zu erwähnen, das 1989, nach 16jährigen Bemühungen, unter Dach kam. Dass sich die Beziehungen aufs Ganze gesehen lange nicht wesentlich weiterentwickelten, hat mehrere Gründe. Vor allem war der Zollabbau wohl der letzte grössere Schritt, der die Gesetzgebungsautonomie beider Seiten nicht berührte. Für den freien Dienstleistungsverkehr zum Beispiel war (und ist) das Freihandelsabkommen kein Modell. Die EWG wollte namentlich beim Aufbau ihres Binnenmarktes stets Herrin der Dinge bleiben, im Grunde auch im EWR, der 1989/90 lanciert wurde und 1994 – ohne die Schweiz – in Kraft trat. Wenn die Eidgenossenschaft «fast nicht integrationsfähig ist», wie Jolles 1969 über den Vollbeitritt sagte, so galten die staatspolitischen Einwände auch oder erst recht für eine Teilintegration in die europäische Rechtsordnung und die Teilnahme an europäischen Programmen ohne Mitbestimmung.

War also die Annäherungsbereitschaft der Schweiz überhaupt solid? In den Absichtserklärungen von Anfang der 1970er Jahre ist auffallend oft von «Zusammenarbeit» die Rede – nicht etwa von «Beteiligung» oder gar «Assoziation». Genauer war wohl eine Partnerschaft von Gleichberechtigten gemeint. Konkret wurde auf die Lösungen für das Patentrecht und die Forschung verwiesen. Im ersten Fall wurde damals in einem weiteren europäischen Rahmen ein Übereinkommen von schliesslich 16 Staaten ausgehandelt, da sich die EWG nicht auf ein verbindliches Patentrecht einigen konnte. Im zweiten Fall wurde, ebenfalls ausserhalb der Gemeinschaftsstrukturen, die COST, ein Netz wissenschaftlich-technologischer Kooperation, gebildet, die aber neben den Forschungsrahmenprogrammen (ab 1984) nur eine zunehmend marginale Rolle spielen sollte.

Insofern scheint man damals in Bern die EWG als den massgebenden Ort der europäischen Zusammenarbeit oder eben Einigung klar unterschätzt zu haben. Demgegenüber wird das Gewicht der heutigen 27er Union an sich kaum mehr bestritten. Aber noch immer fällt es in der Schweiz manchen schwer, hinzunehmen, dass in den Beziehungen mit der EU, mag man sie auch «bilateral» nennen, das supranationale Gebilde die Regeln weitgehend vorgibt und auf deren Einhaltung pocht.

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