Kolumne

Von der Strasse zur Urne: Die politische Beteiligung junger Menschen steht auf dem Prüfstand

Der hohen politischen Mobilisierung junger Menschen steht ihre geringe Wahl- und Stimmbeteiligung gegenüber. Um die Demokratie zukunftsfähig zu behalten, muss die Jugend besser eingebunden werden, denn ohne ihre Stimme bleibt die politische Zukunft unvollständig.

Im Februar 2024 hat der Nationalrat die parlamentarische Initiative Arslan zum Stimmrechtsalter 16 auf nationaler Ebene endgültig abgeschrieben. Damit ist eine schweizweite Senkung des Stimmrechtsalters auf 16 Jahre vorerst vom Tisch. Die Staatspolitische Kommission des Nationalrates begründete ihre Ablehnung damit, dass ein Stimm- und Wahlrechtsalter von 16 Jahren in ihren Augen in einem ungerechtfertigten Gegensatz zu den zivil- und strafrechtlichen Rechten und Pflichten stehen würden, die für die Schweizerinnen und Schweizer ab dem Alter von 18 Jahren gelten.

Diese Entscheidung steht im krassen Widerspruch zur bemerkenswerten Mobilisierung junger Menschen, die sich zunehmend für politische und gesellschaftliche Themen einsetzen. Die «Fridays for Future»-Demos sind in den letzten Jahren besonders herausgestochen. Zehntausende Schülerinnen und Schüler haben sich für ein entschlosseneres Handeln gegen den Klimawandel eingesetzt. Ein Bestandteil ihrer Forderungen war auch die Senkung des Stimmrechtsalters auf 16 Jahre, um jungen Menschen mehr politische Teilhabe und Gerechtigkeit zu ermöglichen.

Trotz dieser massiven Mobilisierung bei Klimastreiks und anderen Umweltaktionen zeigt sich ein besorgniserregendes Phänomen: Die Teilnahme junger Menschen an formalen demokratischen Prozessen bleibt hinter den Erwartungen zurück. Bei den letzten Wahlen war die Wahlbeteiligung der 18- bis 24-Jährigen signifikant niedriger als die der älteren Generationen. Während die «Fridays for Future»-Bewegung und andere Jugendinitiativen lautstark ihre Stimme erheben, stellt sich die Frage: Warum bleiben die Urnen so oft leer, wenn es darum geht, die politischen Forderungen der jungen Generation tatsächlich umzusetzen?

Der Weg zum Recht

Allzu schnell wird vergessen, dass 18-Jährige erst seit relativ kurzer Zeit zur Urne gehen dürfen. Erst 1992 beschloss die Schweiz, das Stimmrechtsalter von 20 auf 18 Jahre zu senken, ein Schritt, der auch von der 68er-Bewegung mitgetragen wurde. Zuvor waren insgesamt 25 Versuche, das Stimmrechtsalter zu senken, gescheitert. Diese historische Erfahrung zeigt, dass Änderungen im Wahlrecht oft auf langwierige Diskussionen und viele Anläufe treffen, bevor sie schliesslich umgesetzt werden. Während das Stimmrechtsalter auf 16 auf nationaler Ebene im Februar 2024 abgelehnt wurde, bleibt die Situation auf kantonaler Ebene dynamisch. In zahlreichen Kantonen gibt es derzeit offene Vorstösse in diese Richtung und verschiedene politische Parteien sowie Jugendorganisationen setzen sich aktiv dafür ein, das Wahlalter auf 16 Jahre zu senken, um die politische Teilhabe junger Menschen zu fördern und ihre Stimmen stärker im politischen Prozess zu vertreten. Noch mehr Vorstösse in den Kantonen sind in den letzten Jahren allerdings gescheitert. Gegner der Senkung, insbesondere aus dem rechten Lager, verweisen häufig auf die ablehnende Haltung in den Kantonen, um ein Nein auf nationaler Ebene zu rechtfertigen.

Diese regionale Uneinigkeit wirft Fragen auf: Haben die Gegner im Nationalrat ihr Nein direkt mit den Ergebnissen in den Kantonen begründet, oder soll die Ablehnung auf nationaler Ebene vielmehr als Impuls für die Entscheidungen in den Kantonen dienen? Die Entwicklung auf kantonaler Ebene könnte noch eine Rolle spielen, wenn es darum geht, das Thema in Zukunft wieder auf nationaler Ebene aufzugreifen. Es bleibt abzuwarten, ob sich aus den laufenden kantonalen Diskussionen neue Impulse für eine erneute Auseinandersetzung mit dem Stimmrechtsalter auf nationaler Ebene ergeben werden.

Die Mängel des Schweizer Systems

Revolutionärer Idealismus lässt zwar fliegen, doch in der Schweiz holt einen die Wirklichkeit schnell wieder ein. Trotz obengenannter Beispiele; will man in der Schweiz politisch etwas bewegen, funktioniert das meist über den Ordonnanzweg – man geht wählen und abstimmen. Der Weg zur nationalen Urne steht jeder volljährigen Person mit Schweizer Bürgerrecht offen und garantiert, dass jede Stimme gleich viel wert ist (Diskussionen über das Ständemehr werden hier ausgelassen). Doch trotz dieser theoretischen Gleichheit gibt es in der Praxis deutliche Unterschiede in der politischen Einflussnahme zwischen den verschiedenen Generationen. Hat die junge Generation also gleich viel zu sagen wie die älteren Generationen? Die kurze Antwort lautet: Theoretisch ja, praktisch nein. Das liegt sowohl an sozio-ökonomischen als auch an demografischen Gründen. Der typische Wähler (das generische Maskulinum ist bewusst gewählt) in der Schweiz ist männlich, alt und gebildet. Dies spiegelt sich deutlich in den Wahlstatistiken wider. Verglichen mit der Altersgruppe der 66- bis 75-Jährigen nehmen die jüngsten Stimmberechtigten deutlich seltener an Wahlen und Abstimmungen teil; oft ist die Wahlbeteiligung der Älteren doppelt so hoch wie die der Jüngeren. Die wählende Bevölkerung ist auch deshalb älter, weil die Schweizer Bevölkerung insgesamt überaltert ist. Dieser Trend wird sich in den kommenden Jahren noch verstärken. Die zunehmende Alterung der Schweizer Bevölkerung gefährdet die soziale und wirtschaftliche Stabilität, indem sie die Vorsorge- und Gesundheitssysteme unter untragbaren Druck setzt. Sie verschärft den Fachkräftemangel und lähmt das wirtschaftliche Wachstum, während sie gleichzeitig das drohende Ungleichgewicht im politischen Einfluss und die Demokratie auf die Probe stellt und die Interessen jüngerer Generationen zunehmend ignoriert. Es ist jedoch gerade diese junge Generation, die nicht nur von diesen Problemen betroffen sein wird, sondern auch die Aufgabe hat, sie zu lösen.

Man muss sich also fragen, wie man junge Menschen vermehrt für die demokratische Beteiligung begeistern kann. Oder andersherum: Was fehlt der jungen Generation, dass sie sich nicht aktiv demokratisch engagiert? Die Sozialforschung identifiziert verschiedene Gründe, die junge Erwachsene davor abschrecken, wählen oder abstimmen zu gehen. Ein wesentlicher Faktor ist die mangelnde politische Bildung. Viele junge Menschen erhalten in ihrer schulischen Laufbahn nicht genügend Informationen über politische Prozesse und ihre Bedeutung. Begriffe wie «Mantelerlass», «Schuldenbremse» oder «Bilaterale» schrecken ab und vermitteln leicht ein Gefühl der Uninformiertheit, was die Motivation zur Teilnahme an Wahlen und politischen Aktivitäten mindert.

Hinzu kommt die geringe Wahlbeteiligung unter jungen Menschen, die oft durch Desillusionierung und das Gefühl, politisch wenig bewirken zu können, bedingt ist. Dies ist keineswegs ein Phänomen, das nur unter jungen Menschen verbreitet ist, jedoch symptomatisch für eine junge Generation, deren Vertrauen in die politischen Institutionen merklich tief ist. Diese Einstellung wird durch den dominierenden Einfluss älterer Wählergruppen noch verstärkt. Systemische Barrieren spielen da mit. Solange junge Menschen in den Institutionen und Entscheidungsprozessen stark unterrepräsentiert sind, werden ihre Perspektiven und Anliegen unberücksichtigt bleiben, was wiederum das Gefühl der Marginalisierung verstärkt.

Der Weg nach vorn

In den letzten Jahrzehnten lag die durchschnittliche Wahlbeteiligung bei nationalen Wahlen in der Schweiz typischerweise zwischen 40 und 50 Prozent. Bei wichtigen nationalen Abstimmungen kann die Beteiligung zwar höher sein, doch bleibt sie oft hinter derjenigen anderer demokratischer Länder zurück. Das hat seine Gründe, doch werden mehr junge Leute mobilisiert, so hat dies einen positiven Effekt auf die Stimm- und Wahlbeteiligung. Junge Menschen müssen dafür schon früh ein Verständnis für politische Prozesse und ihre Bedeutung entwickeln. Eine Stärkung der politischen Bildung forderte kürzlich auch die oberste Lehrerin der Schweiz, Dagmar Rösler. Rösler betonte, dass politische Bildung in allen Bereichen des Bildungssystems gestärkt und in den Lehrplänen besser verankert werden müsse.

Zweitens ist es notwendig, die politischen Institutionen und Entscheidungsprozesse zugänglicher und repräsentativer zu gestalten. Junge Menschen sollten aktiv in politische Gremien eingebunden werden, sei es durch Jugendparlamente, Quotenregelungen oder andere Formen der Beteiligung. Die Förderung von Kandidaturen junger Menschen bei Wahlen und die Schaffung von Plattformen, die ihre Anliegen direkt adressieren, können ebenfalls zur Stärkung ihrer politischen Präsenz beitragen.

Drittens müssen Massnahmen ergriffen werden, um das Vertrauen junger Menschen in die politischen Institutionen wiederherzustellen. Transparenz, Rechenschaftspflicht und die gezielte Ansprache jugendspezifischer Themen sind hier entscheidend. Politische Entscheidungsträger sollten den Dialog mit der jungen Generation suchen und deren Anliegen ernst nehmen. Dazu gehört auch, dass Jugendverbände und andere junge Initiativen aktiv in Vernehmlassungsverfahren einbezogen werden. Es stellt sich die Frage, ob dies ausreichend geschieht. Regelmässige Konsultationen, partizipative Entscheidungsprozesse und die Unterstützung von Initiativen, die sich für junge Menschen einsetzen, stellen sicher, dass die Perspektiven der Jugend angemessen berücksichtigt werden und sie stärken das Vertrauen in die politischen Prozesse.

Schliesslich bleibt das Thema Stimmrechtsalter 16 ein umstrittener Punkt. Der neugewählte Nationalrat hat die parlamentarische Initiative Arslan zur Senkung des Stimmrechtsalters auf nationaler Ebene abgeschrieben, während sich der vorherige Rat noch eine Vorlage zur Ausarbeitung bereit erklärte. Diese Entscheidung spiegelt die anhaltenden Widerstände und die tiefgreifenden politischen Differenzen wider, die das Thema umgeben. Letztlich sollten die Kantone ihren eigenen Weg gehen und sich nicht von nationalen Diskussionen beeinflussen lassen. Der grosse Vorteil der  föderalen Struktur der Schweiz  ist es schliesslich, dass die Kantone auf die spezifischen Bedürfnisse und Ansichten ihrer Bevölkerung individuell eingehen können. Allerdings darf man nicht erwarten, dass alle Impulse nur von den Kantonen ausgehen – auch die (junge) Bevölkerung muss aktiv bleiben und sich in politische Prozesse einbringen, um Veränderungen voranzutreiben.

Hoffnung für die Zukunft

Während wir auf weitere Fortschritte im Wahlrecht warten, erleben wir eine neue Generation junger Menschen, die sich auf ihre Weise für soziale Veränderungen engagiert. Das erleben wir in der Schweiz nicht zum ersten Mal. Vor über 50 Jahren setzte sich die 68er-Bewegung entschieden dafür ein, dass junge Menschen mehr Partizipation und Einfluss auf politische und gesellschaftliche Entscheidungsprozesse erhalten. Der Geist der 68er-Bewegung mag in den 90er noch zu spüren gewesen sein, für das heutige junge Stimmvolk ist er aber kaum mehr zu greifen. Die Folgen der Veränderungen der 1960er und 1970er Jahre, etwa die soziale und kulturelle Liberalisierung, die sexuelle Befreiung, Entwicklungen des Bildungssystems und der politischen Kultur, spürt unsere Gesellschaft aber noch heute. Die soziale und kulturelle Liberalisierung führte zu einer breiteren Akzeptanz von Diversität, auch wenn die Schweiz noch weitere 50 Jahre bis zur der Einführung der Ehe für alle brauchte. Die sexuelle Befreiung zeigt sich etwa mit der umfassenden sexuellen Aufklärung in Schulen. Im Bildungssystem haben Reformen zu mehr Chancengleichheit und integrativen Bildungsmodellen geführt. In der politischen Kultur hat sich die direkte Demokratie weiter gefestigt und es gibt eine zunehmende Partizipation der Bürger*innen an politischen Prozessen, was die demokratische Kultur der Schweiz bereichert hat. Ursprünglich verantwortlich für diesen Befreiungsschlag: weitgehend junge Menschen, die sich gegen die traditionellen Autoritäten und gesellschaftlichen Normen auflehnten.

Heute sehen wir ähnliche Muster in politischen Bewegungen wie „Fridays for Future“, die in der Schweiz und international zehntausende meist junge Menschen auf die Strassen bringt. Die Präsenz von meist erstmalig politisch aktiven Jugendlichen, insbesondere Schüler*innen, ist bei der Klimajugend ein besonderes Merkmal. Mit ihrer starken Präsenz hatten sie das Thema Klimakrise in den Mittelpunkt der öffentlichen Debatte gerückt – und waren damit zumindest teilverantwortlich für den Sieg der Grünen an den nationalen Wahlen 2019. Ein Phänomen, das nicht nur in der Schweiz zu beobachten war.

International sorgen junge politische Bewegungen immer wieder für Schlagzeilen. Ein paar Jahre vor der Klimajugend spielten Studierende und junge Menschen etwa eine entscheidende Rolle im Arabischen Frühling. Sie nutzten soziale Medien, um Massenproteste zu organisieren und ihre Stimmen gegen autokratische Regime zu erheben. Ihre Dynamik und ihr Engagement setzten bedeutende politische Veränderungen in Gang und inspirierten Generationen weltweit. Auch die „Black Lives Matter“-Demonstrationen mobilisierten weltweit Millionen von Jugendlichen und jungen Erwachsenen und auch in der Schweiz wurde gegen Rassismus und Polizeigewalt demonstriert. Überraschend ist das nicht, denn die Vergangenheit hat gezeigt, dass junge, studentische Bewegungen schon immer an der Spitze von internationalen Bewegungen standen.

Doch es reicht nicht, auf vergangene Erfolge wie die der 68er-Bewegung zurückzublicken – der Mut und das Engagement junger Menschen müssen auch heute gefördert und wertgeschätzt werden, um die Demokratie für die kommenden Generationen lebendig und stark zu halten. Zudem sind wir heute mit einer Vielzahl an Problemen konfrontiert, die eine langfristige Planung erfordern und deren Lösung vor allem die heute junge Generation die nächsten Jahrzehnte beschäftigen wird. Das Engagement der Jugend ist nicht nur ein Zeichen für Vitalität, sondern eine Notwendigkeit für das langfristige Wohl der Gesellschaft. Wenn junge Menschen sich jedoch nicht mehr für die Gestaltung der Zukunft einsetzen, hat eine Gesellschaft verspielt.

Zum Autor

Leo Hurni (1997) leitet die Geschäftsstelle der SGA-ASPE. Er schloss an der Universität Zürich in Politikwissenschaften und Philosophie ab und erwarb an der Universität Leiden einen Master in Krisen- und Sicherheitsmanagement.

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