Veranstaltungsberichte

Verspielt die Menschheit ihre Chancen?

Alt Bundesrat Joseph Deiss appelliert an Staaten, Bürgerinnen und Bürger, der Dynamik von Abschottung, Krieg und Missachtung des Rechts eine Dynamik des Friedens entgegenzusetzen. Die Fortschritte seit der Aufklärungszeit würden die Möglichkeit bieten, zu allgemeinem Wohlergehen zu gelangen, sagte er an einer Aussenpolitischen Aula von SGA-ASPE und foraus in Bern.

Realitäten wie der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine, die verbreitete Geringschätzung humanitärer Pflichten oder die Gefährdung der natürlichen Umwelt wecken tiefe Besorgnis und Gefühle der Machtlosigkeit. Joseph Deiss, CVP-Bundesrat von 1999 bis 2006, tritt mit seinem Buch «Brüche» (Rezension hier) gegen die Passivität an. Auf Einladung der SGA hat er seine Sicht der Entwicklungen, Zerfallserscheinungen und Chancen an der Universität Bern zur Diskussion gestellt. SGA-Vizepräsident Rudolf Wyder eröffnete die Veranstaltung nicht ohne den Hinweis, dass sie am Holocaust-Gedenktag stattfand. Erinnert wird dabei auch an das Versprechen «Nie wieder!», an den Aufbruch zu friedlichen, menschenwürdigen Verhältnissen nach dem Zweiten Weltkrieg.

Fortschritte – Rückfälle – Kipppunkte

Joseph Deiss stellte die jüngsten Veränderungen in den Kontext der Menschheitsgeschichte, um eine Reihe von beschleunigten Entwicklungen (Brüchen) seit etwa 1750 hervorzuheben: das Bevölkerungswachstum, die vielfach raschere Steigerung der wirtschaftlichen Produktion, die sprunghaften technologischen Neuerungen, aber auch die Tendenz zur Überstrapazierung der Umwelt und, wieder positiv, den Weg vom Nationalstaat zu multilateralen Institutionen, zur internationalen Anerkennung der Menschenrechte und zum humanitären Kriegsvölkerrecht. Für neue, negative Brüche stehen in seiner Darstellung nun besonders die Kriege gegen die Ukraine und im Gazastreifen, wo humanitäre Prinzipien mit Füssen getreten werden, sowie jüngst der Auftakt zu Donald Trumps Präsidentschaft in den USA. In einer Art Machtrausch wende sich dieser dem Protektionismus zu, statt die Vorteile des freien Handels für alle Beteiligten wahrzunehmen, kritisierte der Ökonom; Trump halte nicht nur – wie die USA oft ohnehin – wenig vom internationalen Recht als solchem, sondern missachte auch die territorialen Rechte von Nachbarn und wolle amerikanische Regeln anderen aufzwingen.
Trotz diesem düsteren Bild der Gegenwart wollte sich Deiss nicht als Pessimist verstanden wissen. Die skizzierten grossen Entwicklungen seit der Aufklärung enthielten eben Möglichkeiten zum Guten wie zum Schlechten. Es wäre das Nötige vorhanden, um allen Menschen ein komfortables Leben zu verschaffen, die Staaten kooperieren zu lassen und auch die Umweltprobleme zu bewältigen. Ebenso bestehe aber das Potenzial zur totalen Zerstörung. Deiss sprach denn auch von einem moralischen Problem und rief dazu auf, die Konfliktlogik einfach nicht mehr zu akzeptieren, vielmehr eine Dynamik des Friedens in Gang zu bringen.

«Optimismus des Willens»

Deiss schrieb sein Buch, wie er sagte, mit dem Bauch und auch mit dem Herzen. Der Auftritt des 79-jährigen früheren Professors und Politikers war lebhaft, zuweilen angriffig, und nach vorne gewandt. In der von Markus Mugglin, Mitglied des SGA-Vorstands, geleiteten Diskussion wurde die weitgefasste und von Betroffenheit zeugende Darlegung (ohne konkretere Handlungsvorschläge) gut aufgenommen. In ihrem Engagement bestärkt fühlten sich gerade auch die jüngeren Teilnehmerinnen, Sereina Capatt, Co-Geschäftsführerin des Forums Aussenpolitik (foraus), und Laura Curau, Präsidentin der Mitte-Partei Stadt Bern. Nationalrat Jon Pult, Präsident der SGA, zitierte Antonio Gramscis Formel «Pessimismus des Verstandes – Optimismus des Willens»; die bedrohlichen Entwicklungen seien nicht Schicksal. Er würde einen solchen Mitte-Bundesratskandidaten wählen, sagte der Sozialdemokrat mit aktueller Spitze; die Zusammenhänge zwischen Interessen der Schweiz und Stabilität in der Welt kämen im heutigen Diskurs zu kurz. Deiss’ Analyse berücksichtige allerdings zu wenig die Ungleichheit oder umgekehrt den positiven Einfluss von Gleichheit auf den Frieden.
Während der frühere Aussenminister, der erfolgreich für den UNO-Beitritt der Schweiz gekämpft und 2010/11 die Generalversammlung präsidiert hatte, den heute geschwächten Multilateralismus als solchen hoch einschätzte, wies Sereina Capatt auf den Reformbedarf im UNO-System hin. Laura Curau ermahnte dazu, über Bevölkerungsgruppen wie beispielsweise Trumps Wählerschaft nicht hinwegzusehen. Viele fühlten sich unverstanden und könnten sich etwa mit dem Völkerrechtssystem nicht identifizieren. Pult sah ein Schlüsselproblem in der Zerstörung der gesellschaftlichen Kommunikation. Die von Grossunternehmen getragenen «unsozialen Medien» wirkten manipulativ, überforderten viele und führten so zum Rückzug vom politischen Geschehen. Von Algorithmen gesteuerte Plattformen müssten reguliert werden.

Alternativen auch in der Schweiz

Wie soll sich nun die Schweiz in der konfliktreichen Welt verhalten? Sie habe viel zu bieten, sagte Deiss, sie sei nicht nur wirtschaftlich, sondern auch politisch über ihre eigene Dimension hinausgewachsen. Er verwies etwa auf die Mitwirkung im Sicherheitsrat während der vergangenen zwei Jahre, auf die Bürgenstock-Konferenz über die Ukraine oder auf die Rolle für das Rote Kreuz. Im Buch kritisiert er jedoch zum Beispiel, dass der Bundesrat den Beitritt zum Atomwaffenverbotsvertrag ablehnt. Zornig gemacht habe ihn, sagte er in Bern, das Nein des Nationalrats zu Krediten an die UNO-Palästinenserhilfsorganisation UNRWA, die den Grossteil der Hilfe an Kriegsopfer im Gazastreifen bewältigt. Für Jon Pult zeigt sich darin, dass im liberalen und christlich-demokratischen Bürgertum etwas bricht. Doch Politik sei stets auch zyklisch und könne sich auf Druck der Zivilgesellschaft wieder ändern. Wichtig wäre, betonte der SGA-Präsident, zu einer sicherheitspolitischen Diskussion zu gelangen, die neben dem Militär die Aussen-, Friedens- und Entwicklungspolitik mitumfasst.

#Nachhaltige Entwicklung #Sicherheit #Völkerrecht

Espresso Diplomatique

Kurz und Kräftig. Die wöchentliche Dosis Aussenpolitik von foraus, der SGA und Caritas. Heute stehen die Bestrebungen diverser afrikanischer Staaten im Bereich der nuklearen Kernenergie im Fokus. Trotz der potenziellen Unterstützung durch China und Russland bleiben aufgrund der mit diesen Projekten verbundenen Risiken Zweifel bestehen. Nr. 475 | 08.04.2025

Eine Aussenpolitik für die 
Schweiz im 21. Jahrhundert

Neue Beiträge von Joëlle Kuntz (La neutralité, le monument aux Suisses jamais morts) und Markus Mugglin (Schweiz – Europäische Union: Eine Chronologie der Verhandlungen) sowie von Martin Dahinden und Peter Hug (Sicherheitspolitik der Schweiz neu denken - aber wie?) Livre (F), Book (E), Buch (D)    

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Das Schweizer Mandat im UNO-Sicherheitsrat (2023 und 2024) fiel in turbulente Zeiten, der Rat hatte Schwierigkeiten, in den grossen Fragen Entscheide zu fällen. Jeden Samstag haben wir das Ratsgeschehen und die Haltung der Schweiz zusammengefasst.

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