Eine weitere Standortbestimmung zum Verhältnis Schweiz-EU. Aber diesmal von einem schweizerischen und einem europäischen Autor im Tandem erarbeitet. Ein Novum, eine ausgezeichnete Idee, ein instruktives Experiment!
Nicht irgendwer hat sich die Aufgabe gestellt, die aktuelle Beziehungskrise zwischen der Schweiz und Europa aus zwei Blickrichtungen zu beleuchten: Es ist zum einen Andreas Schwab, Mitglied des Europäischen Parlaments seit 2004, gewählt für die CDU in der Südwestecke Baden-Württembergs, also im Grenzgebiet zur Schweiz, seit 2019 Vorsitzender der EWR/EFTA-Delegation des EP. Zum anderen ist es Nicola Forster, Gründer des aussenpolitischen Think-Tanks foraus, Präsident der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft und Co-Präsident der Grünliberalen Partei des Kantons Zürich. Den Analysen der beiden Autoren sind Geleitworte von Jean-Claude Juncker, Doris Leuthard, Johannes Hahn, Christoph Blocher und Winfried Kretschmann vorangestellt.
Das gemeinschaftliche Unterfangen ist verdienstvoll, das Resultat lehrreich. Auf knapp 200 Seiten beleuchten die Autoren Mythen und Fakten, die in die schweizerische Europapolitik hineinspielen, institutionelle Eigenheiten, die diese determinieren, dann die Etappen des Bilateralismus, schliesslich die Genese des Rahmenabkommens sowie mögliche Alternativen zu diesem. Die doppelte Autorschaft ist dabei unverkennbar: wo es nicht aufgrund der Thematik ohnehin gegeben ist, verraten sich die beiden Autoren argumentativ und stilistisch. Das ist nicht nachteilig – leicht irritierend sind höchstens etliche Überschneidungen und Wiederholungen, nebst ein paar sachlichen Fehlern, die ein sorgfältiges Lektorat hätte entdecken müssen. Zwei Bücher in einem also? Vielleicht, aber nichts könnte das unsägliche Diktum rechtfertigen, das Blocher an den Anfang seines Gastbeitrags stellt: «Wir passen nicht zusammen.»
Inkompatibel?
Das Buch belegt das Gegenteil, nämlich dass die Europäische Union und der schweizerische Bundesstaat auf ein und derselben DNA beruhen: dem Föderalismus, also der vertikalen Rollenverteilung auf mehrere Kompetenzebenen. Was die Schrift mit ihrer doppelten Autorschaft aber auch sinnfällig macht, ist, wie weit sich der schweizerische und der europäische Diskurs voneinander entfernt haben. Europa spricht von Anderem und argumentiert oft in anderen Kategorien und Dimensionen als die helvetische Politik. Nicht Inkompatibilität ist die Ursache, sondern hartnäckiges Réduitdenken. Was nottut, ist Dialog!
Genau diesen pflegen Forster und Schwab. Der eine analysiert helvetische Spezifika, Vorstellungen und Obsessionen, Konstanten und Blockaden. Einem instruierten schweizerischen Publikum wird vieles vertraut sein, für europäische Leserinnen und Leser dürfte es erhellend sein. Der andere steuert kenntnisreich die europäische Perspektive bei. Was Schwab über Funktionieren, Positionen und Politiken der EU zu sagen hat, sollte hierzulande dringend zur Kenntnis genommen werden. Wir können es uns nicht leisten, in Unkenntnis der europäischen Institutionen und Unverständnis gegenüber ihrer Logik weiter über unsere eigenen Füsse zu stolpern.
Unumgänglich ist auch, uns klarzumachen, dass von der Schweiz mehr als die Verteidigung einzelner Privilegien erwartet wird: «Ein Schweizer Beitrag an die Lösung der geopolitischen und europäischen Herausforderungen wäre willkommen. Wenn die Schweiz aber künftig eine starke Rolle spielen möchte, muss sie sich von ihrer Nabelschau lösen und selbstbewusst für ihre Interessen eintreten – und diese Interessen beruhen auf europäischen Werten.» Es liege im ureigenen Interesse der Schweiz, argumentieren die Autoren, sich stärker am internationalen Burden Sharing für Frieden und Sicherheit zu beteiligen, insbesondere durch eine engere Zusammenarbeit mit der EU und der OSZE.
EWR statt InstA?
Einem roten Faden gleich zieht sich das Bedauern über das Scheitern des Institutionellen Rahmenabkommens (InstA) durch das Buch. Zu Recht konstatieren die Autoren, der Bundesrat habe die Deutungshoheit aus der Hand gegeben und das Feld den Gegnern überlassen. Dies gilt freilich nicht erst für die jüngste Phase der Europapolitik. Spätestens seit 1992 steht der Europa-Diskurs in der Schweiz im Banne einer Fundamentalopposition, der die Politik immer höheren Tribut zollt. Es ist, als hätte die Brüsseler Gemeinschaft als liebster Feind die UdSSR abgelöst. Auch Forster/Schwab sind nicht ganz davor gefeit, Denkmustern aus dem fundamentalistischen Arsenal aufzusitzen, etwa wenn sie das im Verhältnis zur EU offensichtlich überholte Binom «wirtschaftliche Integration ja, politisch-institutionelle Bindungen nein» unwidersprochen stehen lassen.
Besonders instruktiv sind die Ausführungen zur Genese des InstA. Sie zeigen zum einen, dass es eine Serie von Divergenzen war (betreffend Fluglärm, Bankgeheimnis, Steuerprivilegien, Hürden beim freien Personenverkehr, protektionistische Massnahmen gegen grenzüberschreitende Dienstleistungen), die der EU Anlass bot, die ursprünglich schweizerische Idee eines institutionellen Rahmens aufzunehmen und mit wachsendem Nachdruck auf die Fixierung institutioneller Regeln zu drängen. Augenfällig wird zum anderen, wie die in Wellen anrollenden Volksinitiativen gegen die Personenfreizügigkeit und gegen den Vorrang des Völkerrechts bei unseren Partnern Verunsicherung schürten und den Druck auf unser Land verstärkten, Hand zu einem InstA zu bieten.
Und wie soll es nach der Beerdigung des InstA weitergehen? Etwas vage sprechen die Autoren von einem «Swiss Deal»: einem Paket aus weiteren sektoriellen Vereinbarungen, gekoppelt mit der (horizontalen oder vertikalen) Regelung der offen gebliebenen institutionellen Fragen, d.h. Bilaterale III. Sollte dies nicht klappen, empfehlen Schwab/Forster der Schweiz einen neuen Anlauf zur Mitgliedschaft im EWR: «ein echter Befreiungsschlag, der für die nächsten Jahrzehnte den wirtschaftlichen Zugang zum Binnenmarkt sichern könnte». Die Vorteile, nicht zuletzt für Südbaden, liegen auf der Hand: klare Regeln statt Ungewissheit; Ende fruchtloser Kontroversen; Beruhigung einer lähmenden Polarisierung in der Schweiz; Erleichterung auch für EU, die Ressourcen auf andere Aufgaben lenken könnte. Nachteile werden nicht verschwiegen: verstärkte dynamische Rechtsübernahme bei fehlender Mitbestimmung; verbleibende Streitpunkte wie Lohnschutz, Unionsbürgerrichtlinie, staatliche Beihilfen; Gruppenzwang, allenfalls verstärkt, sollten das Vereinigte Königreich, die Ukraine und weitere Länder zum EWR stossen, wodurch die Schweiz zum Juniorpartner würde. In den Augen der Autoren scheinen die Vor- die Nachteile jedoch aufzuwiegen.
Unerwähnt bleibt dabei freilich, dass ein nachträglicher EWR-Beitritt die Schweiz wohl für weitere Jahrzehnte auf ein integrationspolitisches Nebengeleise lenken würde. Die Frage, was Souveränität im Kontext der europäischen Integration bedeutet, würde so nochmals ad calendas graecas vertagt. Und doch ist der Vorschlag, die Option EWR zu prüfen, lebhaft zu begrüssen: nämlich als Input zu einer Auslegeordnung der europapolitischen Optionen, welche unser Land hat. Solange wir nicht alle Optionen von Freihandelsabkommen bis Beitritt unvoreingenommen nebeneinanderlegen und vergleichen, Implikationen und Konsequenzen aufzeigen, dann bewerten und schliesslich priorisieren, sind wir dazu verurteilt, uns ständig mit Einzelaspekten suboptimaler Sonderwege herumschlagen.
Die gemeinschaftliche Schrift ist in diesem Sinne ein hochwillkommener Diskussionsbeitrag. Wir würden uns mehr publizistische Joint ventures wünschen, denn im Selbstgespräch werden wir nicht aus der Sackgasse finden.
Nicola Forster/Andreas Schwab, Schweiz und Europa, Eine politische Analyse, Herder Freiburg im Breisgau 2022. 254 Seiten, CHF 19.90 (eBook)/CHF 31.90 (gebundenes Buch).
Kurz und Kräftig. Die wöchentliche Dosis Aussenpolitik von foraus, der SGA und Caritas. In der Ausgabe Nr. 466, November 2024, steht die Migrationsvereinbarung der EU mit Tunesien im Fokus. Zahlreiche Flüchtlinge sind unmenschlichen Bedingungen und Abschiebungen in Wüstengebiete ausgesetzt, was zu Spannungen auf der geopolitischen Ebene führt. Espresso Nr. 466 | 19.11.2024
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