Kolumne

Verbockte Europapolitik – Initiative als Befreiungsschlag?

Was tun, um politische Lähmung zu überwinden? Die Bundesverfassung kennt darauf mit dem Initiativrecht eine massgeschneiderte Antwort. Taugt sie auch im Fall der verfahrenen Europapolitik?

Wenn der Bundesrat nicht vor- noch rückwärts kann, das Parlament gelähmt ist, die Parteien gespalten sind, der öffentliche Diskurs zur Kakophonie gediehen ist – ja, dann hat man ein ausgewachsenes institutionelles Problem. Aber die schweizerische Bundesverfassung hält genau für diese Situation ein perfektes Instrument bereit: die Volksinitiative. Bescheidende 100’000 Unterschriften braucht es, um Bundesrat, Bundesversammlung und schliesslich Stimmvolk zu zwingen, Farbe zu bekennen.

Die direktdemokratischen Instrumente, Initiative und Referendum, haben derzeit Konjunktur. Wer eine gute Idee zu haben meint, wer sich in der Öffentlichkeit profilieren möchte, wer ein Wahlkampfvehikel braucht, der geht mit Unterschriftenbogen unter die Leute. Wer im Gesetzgebungsprozess Druck ausüben will, droht schon mal mit dem Referendum, und wer mit dem einen oder anderen Aspekt einer Vorlage unzufrieden ist, mobilisiert umgehend gegen den Beschluss der Legislative. Initiative und Referendum sind immer niederschwelliger geworden. Mit institutionellen Risiken: Paralyse durch Vetokratie einerseits (wann werden wir es schaffen, Sozialversicherungen und Demographie in Einklang zu bringen?), erneute Vergandung der erst kürzlich entschlackten Bundesverfassung andererseits (was um Himmels Willen haben Kleidervorschriften und Verbote bestimmter Bauformen an Sakralbauten in unserem Grundgesetz zu suchen?).

Wer zum Instrument der Verfassungsinitiative greift, spielt mit hohem Einsatz. Zu den Voraussetzungen gehört ein verbreitetes Problembewusstsein. Nutzen und Risiken sind sorgfältig abzuwägen. Zielsetzung und Inhalt müssen genau überlegt werden. Und es bedarf ausreichender politischer Abstützung. Ansonsten droht ein Fiasko, und zwar nicht erst an der Urne.

Anwendungsfall Europapolitik?

Die Wahrnehmungen bezüglich Ausgangslage widersprechen sich in der Europapolitik diametral. Sehen die einen den abrupten Verhandlungsabbruch vom 26. Mai als «Marignano», bejubeln ihn andere als «Sternstunde der Eidgenossenschaft». Und doch wird niemand behaupten können, der einseitige InstA-Ausstieg löse die drängenden Probleme. Denn die institutionellen Fragen, über die während Jahren verhandelt wurde und auf deren Lösung in erster Linie die Schweiz angewiesen ist, bleiben offen, die Beziehungen zu unseren wichtigsten Partnern sind belastet, Kooperationsprojekte blockiert, und das Vertragsgeflecht, das uns mit der EU verbindet, ist aufs Eis gelegt und dessen Weiterentwicklung ausgesetzt.

Handlungsbedarf ist im Ernst nicht zu bestreiten. Indes der Bundesrat setzt auf Zuwarten, im Parlament gehen die Meinungen diametral auseinander, und in der Öffentlichkeit schlägt man sich vorwiegend alte Leerformeln um die Ohren. Über die Rolle der Schweiz als Teil Europas und über die Weiterentwicklung unseres Kontinents wird hierzulande wenig nachgedacht und noch weniger gesprochen.

In jeder parlamentarischen Demokratie hätte ein Verhandlungs-Harakiri wie jenes vom 26. Mai zum Rücktritt des Kabinetts und zu Neuwahlen geführt. Die Schweiz kennt keinen derartigen Reset. Dafür kennt sie die Volksinitiative. Diese hat gegenüber dem Referendum den immensen Vorzug, nicht einfach zu negieren, sondern etwas vorzuschlagen, einen Weg zu weisen, eine Perspektive zu öffnen. Sie kann so eine politische Debatte provozieren, politische Energien mobilisieren, eine Standortbestimmung erzwingen, die im günstigeren Fall Handlungsspielräume eröffnet.

Die öffentliche Debatte hat freilich auch das Potential, Wege zu verschütten statt zu eröffnen. Auch vergehen zwischen dem Start einer Initiative und dem Entscheid durch Volk und Stände etliche Jahre. Für ein akutes Problem kommt die Entscheidung möglicherweise zu spät. Auch wird eine hängige Initiative gerne als Vorwand für Nichtstun genutzt.

Was es inhaltlich und organisatorisch braucht

Eine europapolitische Initiative macht in der aktuellen verfahrenen Situation dann Sinn, wenn es gelingt, damit die Europadebatte auf eine neue Diskursebene zu heben. Denn es bringt nichts, in den Aprioris, Clichés und pawlowschen Reflexen weiterzudisputieren, die uns in die Sackgasse geführt haben. Ohne neues Framing geht es nicht. Auch müssen wir aufhören, autistisch nur mit uns selber zu reden. Aussenpolitik bedingt, dass wir mit unseren Partnern sprechen, ihnen zuhören, mit ihnen kommunizieren.

Ob es gelingt, mittels einer Initiative den Europadiskurs ganz neu aufzugleisen, hängt ebenso vom Inhalt des Volksbegehrens als auch von dessen Trägerschaft ab. Je breiter und offener die Zielsetzung, desto eher wird es gelingen, eine echte Debatte in Gang zu setzen. Genug des manichäischen Schlagabtauschs für und gegen einzelne Modalitäten. Was wir brauchen ist eine grosse Auslegeordnung der europapolitischen Optionen, ihrer Vor- und Nachteile, Voraussetzungen und Konsequenzen. Zur Ausformulierung: weniger ist mehr. Aber es wird eine Gratwanderung zwischen Offenheit und Verbindlichkeit. Hehre Ziele reichen nicht. Es braucht konkrete Handlungsanweisungen, sogar Fristen, aber nur dort, wo es die Schweiz allein in der Hand hat. Verhandlungen unter selbstgemachtem Termindruck sind ein diplomatisches Eigentor.

Eine fruchtbare, zielführende europapolitische Auslegeordnung setzt standfeste Träger und eine breitaufgestellte Koalition voraus. Das Initiativprojekt kann nicht politischen Parteien überlassen werden. Es braucht dazu der Sachpolitik verpflichtete zivilgesellschaftliche Akteure. Aber die unumgängliche Debatte kann nicht ohne die Parteien geführt werden. Die Bildung einer breiten Koalition ist von Anfang an anzustreben. Akteure, die jetzt noch von «völligem Quatsch» und dergleichen sprechen, müssen davon überzeugt werden, dass ein neuer Ansatz unausweichlich ist. Ob mit oder ohne Initiative: der Zivilgesellschaft wird angesichts der aktuellen Konfusion eine entscheidende Rolle zufallen. Sie muss das Thema von der Ebene des Gezerres auf jene des sachlichen Diskurses heben.

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