Gedenktage und Jubiläen sind nicht harmlos. Sie prägen das Selbstbild. Das hat Konsequenzen. Gerade auch für die Aussenbeziehungen der Schweiz.
Im Leben einer Nation nicht weniger als im Leben des Einzelnen: Geburtstage, Jahrestage, Gedenkfeiern sind bedeutungsschwer. Nicht quantitativ, vielmehr qualitativ. Ob 20, 70, 100 oder 700: wichtig ist, was aus dem Wust von mehr oder minder Denkwürdigem herausgegriffen wird und wie man es mit der Aktualität in Bezug setzt.
Ich bekenne, aktiv an einer grossen nationalen Jubiläumsfeier mitgewirkt zu haben, von der ich im Rückblick denke, sie habe möglicherweise dazu beigetragen, Kräften Vorschub zu leisten, die man jetzt nicht mehr loswird. Ein von Dodis (documents diplomatiques suisses) kürzlich veröffentlichtes Dossier lässt die mit der grossen Kelle angerichteten Festlichkeiten im Jahre 1991 im Zeichen von «700 Jahre Eidgenossenschaft» wieder aufleben.
Der Vorwand zum Feiern war gut: Auf sieben Jahrhunderte Geschichte zurückblicken – das ist schon was! Und es wurde geklotzt, nicht gekleckert. Jubiläumsanlässe fanden in allen Landesteilen statt. Man war bedacht, alle Bevölkerungskreise anzusprechen. Historie und Mythos kamen zu ihrem Recht. Mehr noch lag der Akzent aber auf Aktualität und Zukunft. Zum Symbol der 700-Jahr-Feier wurde das von Mario Botta entworfene avantgardistische kuppelförmige Festzelt. Ein europäisches Jugendtreffen gehörte ebenso zum Festprogramm wie ein «Tag der internationalen Beziehungen» mit viel internationaler Prominenz und ein «Fest der Solidarität», das zum Ausdruck bringen sollte, dass sich die Schweiz als Teil der Völkergemeinschaft versteht. Gleichsam als Geburtstagsgeschenk an die Welt wurde ein Jubiläumskredit von 700 Millionen Franken gesprochen für die Entschuldung ärmerer Entwicklungsländer. Nicht nur in der Schweiz wurde gefeiert, sondern weltweit mit aktiver Beteiligung der Auslandschweizergemeinschaften.
Die 700-Jahr-Feier atmete die Atmosphäre des Aufbruchs: Eben war die Berliner Mauer gefallen. Demokratie hatte über Diktatur triumphiert. Die Nationen des Kontinents strebten unter das gemeinsame europäische Dach. Auch die Schweiz schickte sich an, sich in die europäische Entwicklung einzuklinken und aktiv zum Aufbau eines friedlichen, freiheitlichen, prosperierenden Kontinents beizutragen. Bundespräsident Flavio Cotti, damals zuständig für die Aussenbeziehungen, erklärte am «Europatag»: «Unsere Beziehungen zum neuen Europa müssen die alte Sichtweise, die in vorsichtigen bilateralen Abkommen einen auf Freihandel gründenden Vorteil sucht, überwinden. Unsere Generation hat also die aussergewöhnliche Aufgabe, die Pflege dieser Beziehungen auf die höchste Ebene, die Ebene der Institutionen, zu heben, damit die Schweiz auf breiter Basis am langen Prozess hin zum neuen Europa der Jahrtausendwende teilhaben kann. Der Bundesrat steht voll und ganz hinter diesem kategorischen Imperativ, der verlangt, dass die mehr als 30-jährige Politik der Vorsicht und bisweilen gar der skeptischen Zurückhaltung grundlegend verändert wird.» Welche Aktualität! Bloss: aus 30 Jahren der Vorsicht sind’s inzwischen 60 Jahre der skeptischen Zurückhaltung geworden…
Die Feierlichkeiten waren klug konzipiert, und ich bereue nicht, mitgefeiert zu haben. Aber zurückblickend frage ich mich, ob der «Aufhänger» strategisch geschickt gewählt war. Weckte die aufwändige Reverenz an die mythischen Wurzeln unseres Staatswesens nicht Geister, die sich lieber an Fiktionen laben als mit aktuellen Herausforderungen auseinandersetzen? Begünstigte man damit nicht die Instrumentalisierung historischer Clichés von heldenhafter Abwehr und permanentem Kampf gegen ein feindliches Umfeld, die uns nun den angstfreien Blick nach vorne verbarrikadieren? Leistete man so nicht Kräften Vorschub, die sich mit Vergangenheit begnügen und keine Zukunft brauchen?
Was macht uns «Fit for Future»?
Geburtstag ja. Aber es läge näher, den Blick auf die jüngere Geschichte zu richten und uns vermehrt mit der Genese jenes Staats zu befassen, in dem wir effektiv leben: dem Schweizerischen Bundesstaat nämlich. Es ist paradox, dass das Jubiläum «150 Jahre Bundesverfassung», nur wenige Jahre nach dem 700-Jahre-Hype, 1998 fast unbemerkt über die Bühne ging. Dabei wäre es für das Verständnis der heutigen Gegebenheiten und Herausforderungen ungleich hilfreicher, wir würden uns (statt mit dem sagenhaften Tell) damit auseinandersetzen, warum, wie und wozu sich die notorisch zerstrittenen Kantone 1848 eine Bundesverfassung gaben. Die ideologischen Richtungskämpfe, die dem vorausgingen, der kurze und dennoch lang nachwirkende Bürgerkrieg, der revolutionäre Akt der Verfassungsgebung, dann der allmähliche Aufbau handlungsfähiger Bundesbehörden, die zögerliche Entwicklung einer inklusiven Demokratie, die schrittweise Einführung einer gemeinsamen Währung, die Mühsal der Realisierung eines Binnenmarktes, der zähe Kampf gegen das Chaos von Massen und Gewichten oder die Widerstände gegen die interne Personenfreizügigkeit… Manches, was heute um uns (und mit oder bisweilen ohne uns) geschieht, wäre besser zu verstehen und würde nicht als fremdartig empfunden, würden wir unsere eigene jüngere Geschichte kennen!
Nichts gegen den 1. August. Es war im späten 19. Jahrhundert ein kluger Schritt, ihn als Versöhnungsgeste gegenüber den im Sonderbundeskrieg unterlegenen konservativen Ständen zum Nationalfeiertag zu erklären. Aber der eigentliche (wenn auch heimliche) Bundesfeiertag ist der 12. September. Der Tag nämlich, an dem die Tagsatzung 1848 die erste Schweizer Bundesverfassung – das effektive Fundament unseres heutigen Staatswesens – verabschiedete.
Es ist nicht müssig, an was wir uns erinnern und in welcher Perspektive wir es tun. Es geht nicht um Kaisers Bart, sondern um unser Selbstbild. Im Nationalfeiertag verdichtet sich, was eine Nation für ihre Identität hält. Und das zeitigt politische Wirkung. Der Eid und die Heldentaten der Innerschweizer in Ehren – ungleich relevanter für die heutige (und die ganze) Schweiz ist die konstitutionelle Pioniertat von 1848. Sie inspirierte die Väter der Integration Europas. Um so mehr Anlass haben wir selber, uns vom heimlichen Nationalfeiertag inspirieren zu lassen. Um «Fit for Future» zu sein!
Kurz und Kräftig. Die wöchentliche Dosis Aussenpolitik von foraus, der SGA und Caritas. In der Ausgabe Nr. 466, November 2024, steht die Migrationsvereinbarung der EU mit Tunesien im Fokus. Zahlreiche Flüchtlinge sind unmenschlichen Bedingungen und Abschiebungen in Wüstengebiete ausgesetzt, was zu Spannungen auf der geopolitischen Ebene führt. Espresso Nr. 466 | 19.11.2024
Neue Beiträge von Joëlle Kuntz (La neutralité, le monument aux Suisses jamais morts) sowie von Martin Dahinden und Peter Hug (Sicherheitspolitik der Schweiz neu denken - aber wie?)
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Das Schweizer Mandat im UNO-Sicherheitsrat (2023 und 2024) fällt in turbulente Zeiten, der Rat hat Schwierigkeiten, in den grossen Fragen Entscheide zu fällen. Jeden Samstag fassen wir das Ratsgeschehen und die Haltung der Schweiz zusammen.
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