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Tücken der halben Integration in die EU

Neu veröffentlichte Dokumente belegen, wie unzufrieden der Bundesrat 1991 mit dem Verlauf der EWR-Verhandlungen war. Die Problematik der Suche eines Dritten Weges ist der schweizerischen Europapolitik in der bilateralen Phase erhalten geblieben.

Die Enttäuschung der Verantwortlichen in Bern über die institutionelle Seite des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR) war an sich immer bekannt, und schon der im Vorjahr erschienene Band der Diplomatischen Dokumente der Schweiz (Dodis) gab näheren Einblick in die Stimmung, die 1990, während der Verhandlungen, im Bundesrat herrschte. Die Europäische Gemeinschaft (EG, heute EU) stellte einerseits unangenehme materielle Forderungen, etwa zum Verkehr oder zur Landwirtschaft, war anderseits vom Angebot einer Mitbestimmung der EFTA-Staaten bei neuem EWR-Recht abgekommen – von einem Konzept, dem kundige Diplomaten in Bern von Anfang an misstraut hatten. Die Dodis-Folgepublikation über das Jahr 1991 zeigt nun noch deutlicher, wie negativ die Landesregierung die Verhandlungsresultate beurteilte, und dass für den Ausweg – EWR als blosse Etappe auf dem Weg zur EG – nur ein beschränkter Konsens bestand.

Ja zum EWR trotz Frustration

Wie in den aktuellen Medien bereits berichtet, fehlte es 1991 im Bundesrat nicht an kräftigen Worten. «Wir stehen vor einem diplomatischen Fiasko», konstatierte Kaspar Villiger im April, und: «Wir bewegen uns auf dem Weg eines Kolonialstaates mit Autonomiestatut.» Arnold Koller nannte die Lage, auch innenpolitisch, «miserabel». Die Schweiz fühle sich «zusehends hinters Licht geführt», sagte Aussenminister René Felber im Mai zu seinem deutschen Gegenpart Hans-Dietrich Genscher. Aber der Neuenburger Sozialdemokrat und der mit ihm zusammen federführende freisinnige Wirtschaftsminister Jean-Pascal Delamuraz («la CE démontre toute son arrogance») standen entschieden für die Fortführung der Verhandlungen ein; denn auch ein unausgewogener Vertrag biete der Schweiz materielle Vorteile, und eine Isolation infolge Abbruchs der Verhandlungen, wie ihn Flavio Cotti favorisierte, galt als schlechteste Option.

Als im Oktober die Position für das abschliessende Ministertreffen festzulegen war, einigte man sich ohne Abstimmung auf ein Ja zum EWR-Vertrag, obwohl «la partie institutionnelle ne peut satisfaire la dignité de la suisse, car on peut parler de satellisation» (Felber). Damit verbunden war die Zielsetzung eines Beitritts zur EG, die offiziell verkündet werden sollte. Otto Stich war eigentlich gegen beides. Adolf Ogi legte sich noch nicht explizit fest. Bundespräsident Cotti, der am Europatag in Sils Maria den EWR öffentlich abqualifiziert hatte, gab einem direkten EG-Beitritt mehr Chancen, während Koller und Villiger den EWR in der EG-Perspektive befürworteten, aber damit kaum meinten, dass der Bundesrat noch vor der EWR-Abstimmung, im Mai 1992, ein Gesuch um Beitrittsverhandlungen beschliessen solle. Der erstmals im Mai 1991 bekundete Wille, die EG mit gleichen Rechten und Pflichten mitzugestalten, war wohl bei mehreren Regierungsmitgliedern echt, aber das Vorgehen glich doch sehr einer «Flucht nach vorn», wie sie Cotti in Sils verneint hatte, als er auch ein «Klima des konstanten Dialogs (. . .) mit der ganzen Bevölkerung» versprach.

Die Ambivalenz der Bilateralen

Nach dem Scheitern des EWR in der Abstimmung vom 6.Dezember 1992 nahm die Schweiz bekanntlich einen sektoriellen und bilateralen Neuanlauf. Die Sektoren (Themen) konnte sie allerdings nicht einseitig oder als Schnittmenge der beiderseitigen Interessen bestimmen; namentlich hatte sie den Einbezug der innenpolitisch brisanten Personenfreizügigkeit und schliesslich auch die Verknüpfung der Abkommen (Guillotineklausel) zu akzeptieren. Bilateral war das Unterfangen insofern, als die Schweiz nicht mehr als Teil des EFTA-Verbunds agierte. Dass sie dort bereits zur Verhandlungsposition Kompromisse hatte eingehen müssen und der EWR kein individuelles «opting out» vorsah (Nichtübernahme neuen EG-Rechts durch einen einzelnen EFTA-Staat), waren wichtige Haken jener Konstruktion. Der stets betonte Begriff «bilateral» weckte nun aber die Illusion, das Vertragsverhältnis sei symmetrisch. Das war es wegen des Grössen- und Machtunterschieds immer weniger, und vor allem war es qualitativ etwas Neues, eine einseitige Teilintegration in den Binnenmarkt. Die darin angelegten Fragen der einheitlichen Überwachung und der Anpassung an neues Gemeinschaftsrecht (über «technische» Fragen hinaus) wurden teilweise aufgeschoben oder verdrängt. Das galt zunehmend auch für die Grundsatzfrage der längerfristigen Perspektive.

Stets das gleiche Dilemma

De Idee eines institutionellen Rahmenabkommens ergab sich mit einer gewissen Logik, als die Schweiz auf dem bilateralen Weg bleiben und weitere Abkommen schliessen wollte. Um eine «Falle» handelte es sich insofern nicht. Doch es scheint, als wäre der Bundesrat «pragmatisch» in die Verhandlungen hineingerutscht, ohne klare europapolitische Vorstellungen entwickelt zu haben. Die Asymmetrie des schliesslich abgelehnten Vertrags war nicht zu vermeiden, und für eine allfällige Variante, etwa institutionelle Regelungen in den einzelnen Verträgen, gilt grundsätzlich das Gleiche.

Eine gewisse Unterstellung unter die EU – gemildert durch Konsultationsrechte und geregelte Folgen bei punktuellem Ausscheren – müsste allerdings nicht als nationale Blamage, sondern als passables Arrangement mit den Realitäten aufgefasst werden. Wirtschaft (mit erwünschter Verflechtung) und Politik (mit betonter Eigenständigkeit) lassen sich bei einem supranationalen Binnenmarkt nicht einfach auseinanderfädeln. Die europäische Integration war immer ein Projekt mit breitem Ansatz und politischem Ziel – mit Folgen auch für externe Partner. Heute illustriert etwa die Umweltpolitik, wie die EU faktisch auch internationale Standards setzt und stolz darauf ist.

«Satellisierung» der Schweiz war im Zusammenhang mit dem EWR ein geläufiges Schlagwort – und dies, als die Assoziation mit den Ostblockstaaten als Satelliten Moskaus noch lebendig war. Im Bundesrat widersprach kaum jemand. Immerhin gab Delamuraz zu bedenken: «Il ne faut pas avoir la candeur de penser que l’abandon de l’EEE sans solution de rechange puisse nous mettre à l’abri de la satellisation.» – «Dass ein eigentliches Abhängigkeitsverhältnis besteht», das sich «zusehends verstärken» werde, hatte beispielsweise Botschafter Carlo Jagmetti schon 1986 ausgesprochen. De facto werde durch den «sog. autonomen Nachvollzug» Souveränität eingebüsst. Die EG umfasste damals zwölf Staaten.

Sind Integrationsschritte, ganze oder halbe, also einfach die am wenigsten schlechte Alternative? Nüchternheit in Ehren, doch nötig wäre auch ein wenig europäische Solidarität, und nützlich kann eine Aufbruchstimmung sein, wie sie Anfang der 1990er Jahre trotz allem eher herrschte als heute.


Akten-Querschnitt durch die Aussenpolitik

Seit 50 Jahren erschliesst die Forschungsstelle Dodis (Diplomatische Dokumente der Schweiz) die aussenpolitisch relevanten Aktenbestände des Bundes. Die chronologische Publikationsreihe setzte mit Quellen aus dem Jahr 1848 ein und erreicht mit dem angekündigten 27. Band die Jahre 1976-1978. Die Fortsetzung ist finanziell noch nicht gesichert. Parallel begann das Dodis-Team 2021 damit, Akten unmittelbar nach Ablauf der 30jährigen Sperrfrist zu publizieren. Anfang Jahr ist nun der zweite Band dieser Folge erschienen. Die 62 edierten Dokumente von 1991 belegen das ganze Spektrum der Aussenbeziehungen, also neben der Sicherheits- und der Europapolitik, der Besuchs- und der Konferenzdiplomatie beispielsweise auch die Entwicklungspolitik und Aspekte der Migrations- oder auch der Währungspolitik. Verweise (Links) führen zu vielen weiteren Quellen und thematischen Dossiers, die elektronisch zugänglich sind. Die 1700 neuen Elemente der Datenbank sind das Destillat einer gesichteten Textmenge, die Dodis-Direktor Sacha Zala auf eine Million Seiten schätzt – eine enorme Arbeit als Service für Forschende und weitere Interessierte.


Diplomatische Dokumente der Schweiz 1991. Forschungsleiter: Sacha Zala; Redaktionsleiter: Thomas Bürgisser. Bern 2022, 442 S. Bestellung und Gratis-Download: dodis.ch

 

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