Im wirtschaftlichen Aufstieg grosser Teile Asiens sieht Urs Schoettli für die Schweiz eine Herausforderung wie auch eine Chance. Ohne Illusionen wecken zu wollen, ermutigt er zum «Aufbruch aus Europa», wie der Titel seines neuen Buches lautet.
Asien hat – mit Ausnahme des Nahen und Mittleren Ostens – im öffentlichen Bewusstsein wohl immer noch nicht den Platz, welcher der Grösse, den kulturellen Traditionen und der wirtschaftlichen Vitalität des Kontinentes angemessen wäre. Urs Schoettli, ehemaliger NZZ-Korrespondent für Indien, China und Japan, hat daher guten Grund, uns in einem Buch speziell die Bedeutung des (nicht näher definierten) «asiatischen Zeitalters» für die Schweiz näherzubringen. Er widmet sich vor allem den Geschäftsmöglichkeiten, schliesst allerdings notwendigerweise die Öffnung für die Werte der Gegenseite ein. Folgerungen zieht er einerseits für interessierte Unternehmen, anderseits für die Standortförderung, den Kulturaustausch, die Kooperation in Bildung und Forschung sowie für die politische Ausrichtung der Schweiz in der Welt generell.
Wirtschaftliche Chancen sieht Schoettli für die Beteiligung auch von KMU an asiatischen Firmen und für die Aufnahme fernöstlicher Investoren, für den Tourismus in der Schweiz und für den Finanzplatz, der den neuen wohlhabenden Schichten Anlage- und Versicherungsmöglichkeiten in einem sicheren Umfeld biete. Betont wird aber auch der indirekte Gewinn von Kooperationen, nämlich der Lerneffekt des Kontaktes mit chinesischer Beharrlichkeit, mit japanischer Innovationskraft, auch im Dienstleistungsbereich, oder mit indischer Wendigkeit in einem Raum kultureller Vielfalt.
Gerade aufgrund der mittlerweile vorliegenden Erfahrungen erliegt der Autor nicht der «Faszination von der grossen Zahl», urteilt er differenziert und verschweigt Hindernisse und Risiken auf den – bereits anspruchsvollen – asiatischen Märkten keineswegs. Dazu gehören etwa in China die bis in die Betriebe reichende Kontrolle der Kommunistischen Partei und die Unsicherheit des geistigen Eigentums, in Japan der Hang zu Protektionismus und in Indien ein Mangel an mittelständischen Unternehmen mit langfristigen Perspektiven. Als recht günstig erweist sich die Situation in südostasiatischen Staaten wie Thailand, Indonesien und vor allem Singapur. Vage spricht Schoettli generell von allfälligen Krisen und Konflikten (da habe die Schweiz einen Standortvorteil . . . ), ebenso von sozialen Spannungen, die «zweifellos zunehmen werden». Damit dürfte er die extreme Armut ansprechen, die trotz wachsender Mittelschicht ihrerseits asiatische Ausmasse hat. Mit einer Entwicklungshelfermentalität läge man eine Generation zurück, bescheidet einem der Kenner des Kontinents. Ihm wiederum kann man vorhalten, er interessiere sich, zumindest in diesem Buch, eigentlich nur für Asiens stark verwestlichte Schichten.
Die Kritik am «Eurozentrismus», ein Leitmotiv, bedeutet denn auch nicht, dass das Modell der von Technologie und Konsum getriebenen Modernisierung in Frage gestellt würde. Die Position hat indessen durchaus eine politische Seite. Der titelgebende «Aufbruch aus Europa» wird im Text mit «Ausbruch» ergänzt und verdeutlicht. Die Schweiz, findet Urs Schoettli, sollte sich nicht zu weit in Abhängigkeit von der Europäischen Union begeben, vielmehr gerade mit Blick auf asiatische Partner ihre wehrhafte Neutralität hochhalten, eine Nischenstrategie verfolgen und dadurch letztlich wieder Selbstverstrauen gewinnen.
Mit solchen Überlegungen hat man sich immer wieder auseinanderzusetzen. Doch weder beim Zugang zu Waren- und Dienstleistungsmärkten noch in der Migrationspolitik, weder in der Polizeikooperation noch beim Austausch von Elektrizität kann die Schweiz ihre Partner frei irgendwo auf der Welt wählen; ganz hebt das Internet die physische und politische Geographie nicht auf. Neutralität und Nichteinmischung haben sich längst relativiert – auch unter dem Ziel des Menschenrechtsschutzes, einem Aspekt, der etwa beim Vorschlag einer institutionell verfestigten Annäherung an den Stadtstaat Singapur mitzubedenken wäre.
Urs Schoettli, Aufbruch aus Europa. Die Schweiz im asiatischen Zeitalter. Verlag Neue Zürcher Zeitung, 2015. 201 Seiten, Fr.38.-.
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