Lesetipp

Sonderwege, Holzwege, Königswege

Zeitig zum 30. Jahrestag des denkwürdigen Urnenverdikts über die Beteiligung am EWR ist ein Sammelband erschienen, in dem die Entwicklung der Beziehungen Schweiz-EU seit 1992 nachgezeichnet und mit wissenschaftlicher Akribie analysiert werden.

Als Herausgeber zeichnen die Politikwissenschafter Marc Bühlmann, Anja Heidelberger und Elia Heer aus dem Team des Jahrbuchs Année Politique Suisse. Der stattliche Band vereinigt ein gutes Dutzend thematische Beiträge von ebenso vielen Autorinnen und Autoren zu ausgewählten Aspekten der Beziehungen zwischen der Schweiz und der Europäischen Union seit jenem «dimanche noir», wie der damalige Bundesrat Jean-Pascal Delamuraz den 6.12.1992 nach Bekanntwerden des negativen Abstimmungsergebnisses nannte.

Nach einer Rekapitulation der Beziehungen Schweiz-EU seit dem EWR-Nein folgen monographische Kapitel zu einzelnen Themenfeldern des vielfältigen und vielschichtigen (und zunehmend komplexen) Verhältnisses. Den Anfang macht nicht zufällig ein Beitrag zur immer wieder in Frage gestellten Personenfreizügigkeit. Es folgen Texte zu den Themen Wirtschaftsbeziehungen, Bankgeheimnis und Unternehmensbesteuerung, Wandel parteipolitischer Positionen, Umweltpolitik, Agrarpolitik, Asylpolitik, Rechtsharmonisierung, Verkehrspolitik, Forschung sowie Strommarkt. Ein Résumé der Herausgeber unter dem Titel «Schweiz-EU: Mehr als nur eine Beziehung» rundet den reichhaltigen Band ab.

Parteipolitische Mäander und Volten

Interessieren die einzelnen Sachkapitel insbesondere als sachkundige Rekapitulationen einer keineswegs immer geradlinigen Entwicklung, so sind die beiden Texte, die auf die Haltung der massgeblichen Parteien näher eingehen, besonders instruktiv als politische Lehrstücke – Lehrstücke zum Funktionieren wichtiger politischer Akteure zum einen und zur Dialektik zwischen Aussen- und Innenpolitik zum anderen.

Die CVP/Die Mitte führt den Schlingerkurs einer Regierungspartei und die Klüfte zwischen politischem Personal und Basis exemplarisch vor: mal für den EU-Beitritt, mal dagegen, mal für sofortige Beitrittsverhandlungen, mal für den nachträglichen EWR-Beitritt, mal für Bilateralismus, «aber nicht zu jedem Preis». Eine Slalomfahrt hat auch die FDP/Die Liberalen hingelegt, freilich mit stetig sich verengender Piste: von der Befürwortung des EU-Beitritts über die Kanonisierung der Bilateralen als «Königsweg» zum Zurückschrecken vor dem ausgehandelten institutionellen Rahmen (InstA), das dem Bilateralismus eine Zukunftsperspektive hätte verleihen sollen. Die SVP, einst einem weltoffenen Konservatismus verpflichtet, machte ab 1992 die Ablehnung der europäischen Integration zu ihrem Schlachtross; Radikalisierung und Aufstieg zur stärksten Partei gingen dabei Hand in Hand. Kontinuität legte die SPS insofern an den Tag, als sie dem Beitrittsziel nie abschwor, dieses allerdings mit schwankendem Eifer vertrat und bisweilen aus Rücksicht auf die eigene Klientel Zwischenschritte verweigerte. Nur die Genossen scheinen aber dem Argument, Souveränität bedinge Mitsprache und diese sei nur als Mitglied zu haben, nachhaltig Bedeutung beizumessen.

Ein separates Kapitel ist dem Umgang der Grünen mit der EU-Thematik gewidmet. Ihre ebenfalls mäandernde Haltung sei bestimmt durch den Zielkonflikt zwischen nationalem Schutzniveau und internationaler Harmonisierung, argumentiert die Autorin. Die Grünen wehrten sich immer dann gegen einen Integrationsschritt, wenn sie darin eine Gefahr für den Umweltschutz in der Schweiz sehen. Das Dilemma hat jedoch dadurch an Virulenz verloren, dass die EU in der Umwelt- und Klimapolitik immer ambitionierter geworden ist und der Schweiz immer öfter vorauseilt.

Die Zusammenschau macht augenfällig, wo der wunde Punkt der schweizerischen Europapolitik liegt: Es fehlen dezidiert und konsequent integrationsfreundliche Kräfte, während eine immer europhobere Partei die Szene dominiert und den Diskurs prägt. Das Fazit des Rückblicks auf Parteipositionen ist ernüchternd: wenig sachpolitische Strategie, viel elektoraler Opportunismus; Vorrang innenpolitischer Taktik gegenüber aussenpolitischer Vision. Wer hier eine Hauptursache der Mühen der Schweiz mit ihrer internationalen Positionierung vermutet, liegt nicht falsch.

Verhältnis im Plural

«Es ist kompliziert», resümieren die Herausgeber das Verhältnis Schweiz-EU. Zur Begründung ihres kaum anzuzweifelnden Urteils führen sie zwei Beobachtungen an: Erstens sei weder die EU noch die Schweiz eine einheitliche Akteurin. Auf beiden Seiten gibt es mehrere Mitspieler, Handlungsebenen und Entscheidfindungsverfahren. Allerdings gelingt es der EU offenbar besser, eine konstante Haltung mit deutlich kommunizierten roten Linien zu praktizieren. «Von einem geeinten Auftritt der Schweiz kann in den 30 Jahren Beziehungen zur EU praktisch nie die Rede sein.» Ob der Schwierigkeiten, in der Europafrage mit einer Stimme zu sprechen, dürfe es nicht verwundern, bemerken die Herausgeber, «dass in der EU das Bild einer Schweiz entstand, die vor allem mit sich selber verhandelt». Zweitens habe man es nicht mit einem einzigen, einheitlichen Verhältnis zwischen der Schweiz und der EU zu tun, sondern je nach Themenfeld und Akteurskonstellation mit vielen unterschiedlichen Verhältnissen, die sich zudem im Laufe der Zeit verändern. Diese Vielfalt gelangt in den einzelnen thematischen Kapiteln des vorliegenden Werkes trefflich zur Darstellung.

Was die Herausgeber unerwähnt lassen: Die Schweiz befindet sich auf einem einsamen Trip! Sie hat 1992 eine multilaterale Lösung namens EWR verworfen, während ihre damaligen Weggefährten, die EFTA-Partner, Ja sagten. Seither ist sie im Alleingang unterwegs und lebt mit Ad-hoc-Lösungen. Was nach wirtschaftlich unerquicklichen Jahren und in langen Verhandlungen erreicht wurde, nämlich ein Konvolut bilateraler sektorieller Marktzugangs- und Kooperationsabkommen, ist aus europäischer Warte gewissermassen ein «Überbein». Zu leicht wird hierzulande übersehen, dass die von der Schweiz beanspruchte A-la-carte-Integration in Europa eine wenig populäre Insellösung ist. In den Augen unserer Partner handelt es sich – als Ausnahme vom europäischen Standard – um ein Provisorium, das nur als temporäre Überbrückungslösung eine Existenzberechtigung hat, nämlich als Zwischenstufe auf dem Weg zur Mitgliedschaft. Kann es da verwundern, dass das Verhältnis kompliziert ist?

Das Buch bietet eine detailreiche und differenzierte Bestandesaufnahme und eine hilfreiche historische Einordnung. Was es nicht bietet und nicht bieten will, ist eine Auslegeordnung von Handlungsoptionen und eine zukunftsorientierte Handlungsanleitung. Aber über die Zukunft kann ja nicht diskutieren, wer die aktuelle Situation und ihre Genese nicht kennt. Der Band ist daher von eminentem Nutzen.

Elia Heer/Anja Heidelberger/Marc Bühlmann (Hrsg.), Schweiz-EU: Sonderwege, Holzwege, Königswege, Die vielfältigen Beziehungen seit dem EWR-Nein, NZZ Libro 2022, 400 Seiten, CHF 34.00.

#Institutionelle Fragen #Schweiz-EU

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