Dass sich die Schweiz selbst verteidigen könne, sei eine Chimäre, heisst es provokativ im Vorwort zum Buch «Sicherheitspolitik Schweiz». Gefordert wird weniger Neutralität, mehr Kooperation mit der NATO und vor allem viel mehr Geld. Die Vorschläge bleiben trotzdem in territorial-nationalem Denken gefangen.
«Die Strategie des globalisierten Kleinstaats Schweiz beruht auf einer massgeschneiderten, dissuasiven Kooperation» überschreibt Georg Häsler den Epilog in der Neuerscheinung «Sicherheitspolitik Schweiz». Im Titel klingt an, was der NZZ-Redaktor für die Bereiche Sicherheitspolitik, Verteidigung und Militär der Schweiz vorschlägt. Die militärische Verteidigungsfähigkeit sei «schnellstmöglich wiederherzustellen», die Kooperation sei auf «maximale Interoperabilität» im Verbund mit der NATO auszurichten, die Schweiz soll sich von der Neutralitätsverpflichtung gemäss Haager Landfriedensordnung lösen und stattdessen bündnisfrei handeln. Schliesslich gelte es, die kritischen Infrastrukturen der Energie-, Verkehrs- und Datenträger zu schützen, wie den «Stern von Laufenburg» als europäische Stromdrehscheibe und das eingebunkerte Rechenzentrum des Finanzdienstleisters Swift im thurgauischen Diessenhofen.
Was Häsler im Epilog folgert, breitet er vorher in sechs Kapiteln aus. Er beginnt mit «Der Krieg verschwindet nicht», lotet das Spannungsverhältnis «zwischen autonomer Landesverteidigung und internationaler Kooperation» aus, fragt «Wer könnte die Schweiz angreifen», formuliert «Das Ambitionsniveau der Armee für den ‘worst case’», richtet den Blick auf ein Szenario «Krieg auf Distanz» und warnt zusammen mit Ko-Autor Lukas Mäder und Ko-Autorin Stephanie Lahrtz vor dem « unsichtbaren Krieg».
Häsler rührt an gängige Tabus. Er will die Maxime der Neutralität mit dem Gewaltverbot und dem Selbstverteidigungsrecht laut UNO-Charta ergänzen. Sie sollten neu Orientierungspunkte der Schweizer Sicherheitspolitik sein.
Keine Angst vor Russland – das Risiko heisst Chaos
Und für manche noch überraschender: Häsler schätzt einen «mechanisierten Stoss der russischen Armee Richtung Westen mit Blick auf die gegenwärtige Lage (als) schlicht nicht möglich» ein. Dem Kreml fehle sogar «die Absicht, den ganzen Kontinent mit militärischen Mitteln unter Kontrolle zu bringen». «Ein offener bewaffneter Konflikt dürfte zur Durchsetzung machtpolitischer Ziele weiterhin die Ausnahme bleiben», relativiert Häsler an anderer Stelle das Kriegsrisiko. Grösser sei die Gefahr, dass Russland ohne einen Schuss abzugeben, «Europa ins Chaos stürzen» wolle.
Die Relativierungen über die russische Gefahr besagen letztlich: Die Schweiz gewärtigt selbst bei einem Sieg Russlands in der Ukraine nicht deren Schicksal. Häsler schätzt bewaffnete Konflikte in näherem Umfeld der Schweiz als wahrscheinlicher ein. Es drohe ein schleichender Zerfall von EU und NATO. Das System der kollektiven Sicherheit würde aufgebrochen, der Populismus in mehreren westlichen Demokratien sich als Alternative gegen die «wettbewerbsmüden Meinungskartelle» durchsetzen. Häsler nennt es die «Fragmentierung» Europas als «Spielfeld von Stellvertreterkriegen.»
Es droht auch kein Ukraine-Szenario mit Bodenoffensiven, Panzerverbänden kombiniert mit Angriffen aus der Luft, weil «Cyberangriffe auf Spitäler, Terroranschläge oder ein Angriff mit einer Abstandwaffe auf den «Stern von Laufenburg» ausreichen, um Europa zu destabilisieren. Schlüsselfaktor sei in Zukunft weniger die Masse, vielmehr die Technologie. Der moderne Krieg sei unsichtbar und kenne keine klaren Fronten. Der Kampf werde auch über konventionelle Mittel wie Hunger und Migration geführt.
Das tönt ziemlich anders als in den gängigen Diskussionen über die Wiederaufrüstung der Armee. Trotzdem hängt Häsler letztlich der Doktrin auf «aktive Verteidigung ausgerichtet» an. Die Armee müsse auf die Bewahrung der territorialen Integrität der Schweiz ausgerichtet und deshalb in der Lage sein, «einerseits Achsen zu sperren und Räume zu halten, andererseits gegnerische Kräfte mit Gegenoffensiven zu vernichten». So engt der Autor seinen sicherheitspolitischen Blick dann doch auf die territoriale Dimension plus Annäherung an die NATO ein.
Häsler folgt auch dem «minimalen Ambitionsniveau», das Armeechef Thomas Süssli im Sommer 2023 definiert hatte, das – wie Häsler schreibt – «unabhängig von der strategischen Ausrichtung der Schweiz» Geltung haben soll.
Internationale Zusammenarbeit erwähnt Häsler zwar auch als Teil einer Sicherheitspolitik, allerdings nur beiläufig: «Zu ergänzen wären auch die Rüstungspolitik oder die Internationale Zusammenarbeit (IZA), die ehemalige Entwicklungshilfe, um die Idee einer ‘integrated review’ nach britischem Vorbild aufzunehmen», schreibt der Autor im Epilog. Doch damit hat es sich schon. Von «integrated review» ist beim Autor und Miliz-Obersten im Heeresstab der Armee dann doch wenig zu spüren.
Auch Villiger auf Distanz zu traditioneller Neutralität
Alt Bundesrat Kaspar Villiger äussert sich im Buch in einem eigenen Kapitel über «Die Schweiz im unübersichtlichen internationalen Kräftepolygon – Sicherheitspolitik im Zeitalter zerfallender Gewissheiten». Sicherheitspolitik sei mehr als Verteidigungsfähigkeit. Dazu gehörten ebenso nachvollziehbare und respektierte Aussenpolitik, finanzielle Stabilität, eine stabile Währung sowie «ein ganzer Strauss von Massnahmen wie Lagerhaltung, Reservebildung, Risikodiversifikation, Redundanzen, Versicherungen und dergleichen».
Aus dem Ukraine-Krieg zieht Villiger drei Lehren: Erstens sei der Kleinstaat bei vielen Bedrohungen finanziell und technologisch überfordert. Zweitens fehle die Durchhaltefähigkeit, auch wenn die Leistungsfähigkeit während einer begrenzten Zeit gegeben ist. Drittens bestünden in vielen Bereichen Lücken. Daraus folgert Villiger, dass die gemäss Neutralitätsrecht bestehende Pflicht zur autonomen Landesverteidigung nicht mehr möglich sei. Nur im Verbund und in Kooperation mit befreundeten Streitkräften erachtet er sie als noch möglich.
Auch alt Bundesrat Villiger plädiert für eine moderne Neutralität, die sich nicht mehr «auf ein unvollständiges und durch neue, auch hybride Kriegsformen längst überholtes Haager Abkommen», sondern sich auf das seit 1945 geltende umfassende Gewaltverbot in der UNO-Charta abstützen soll.
Das orthodoxe Neutralitätsverständnis sei selber zum Risikofaktor mutiert. Erstens, weil der Kleinstaat bei der autonomen Verteidigung überfordert sei. Zweitens, weil eine Neutralität, die niemand mehr versteht, auch nicht schützt. Und drittens, weil ein Land, das der von einem Aggressor überfallenen Ukraine zumutbare Hilfe verweigert und dies neutralitätsrechtlich begründet, handfeste Risiken eingeht.
Zweifel anklingen lässt alt Bundesrat Villiger auch an der geforderten Erhöhung der Armeeausgaben und dem geforderten ein Prozent des BIP. Es hafte ihr «ein Beigeschmack von Willkür und nicht von präziser Bedarfsentwicklung» an. Eine präzise Bedarfsentwicklung zu fordern bevor über Finanzen geredet wird, scheut sich Villiger dann aber doch.
Armeepolitik statt Sicherheitspolitik
Was selbstverständlich sein sollte, ist es offensichtlich nicht. Das gilt für die gängige sicherheitspolitische Debatte ohnehin. Es werden zuerst Rüstungsaufträge geplant und getätigt und erst nachher die Sicherheitsrisiken analysiert, statt umgekehrt, wie alt Botschafter Martin Dahinden unlängst an der Veranstaltung der SGA-ASPE über die schweizerische Sicherheitspolitik kritisch angemerkt hatte. Oder bezogen auf die Publikation «Sicherheitspolitik Schweiz». Die Aufrüstung der Armee mit massiv steigenden Finanzmitteln gilt als gegeben, Sicherheitspolitik wird letztlich auf Armeepolitik reduziert. Dass Hilfe für die Ukraine und umliegende Länder sowie Zusammenarbeit über Europa hinaus mit dem «Globalen Süden» sicherheitspolitisch höchst relevant sind, wird nicht bedacht.
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Martin Meyer und Georg Häsler (Hrsg.), «Sicherheitspolitik Schweiz, Strategie eines globalisierten Kleinstaats», NZZ Libro, 2024, 136 Seiten, ab CHF 29.20
Kurz und Kräftig. Die wöchentliche Dosis Aussenpolitik von foraus, der SGA und Caritas. In der Ausgabe Nr. 466, November 2024, steht die Migrationsvereinbarung der EU mit Tunesien im Fokus. Zahlreiche Flüchtlinge sind unmenschlichen Bedingungen und Abschiebungen in Wüstengebiete ausgesetzt, was zu Spannungen auf der geopolitischen Ebene führt. Espresso Nr. 466 | 19.11.2024
Neue Beiträge von Joëlle Kuntz (La neutralité, le monument aux Suisses jamais morts) sowie von Martin Dahinden und Peter Hug (Sicherheitspolitik der Schweiz neu denken - aber wie?)
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