Kolumne

Sicherheit durch Entwicklung – Vision oder Illusion?

In Zeiten globaler Aufrüstung wirkt die Idee fast weltfremd: Frieden durch Entwicklung. Doch in den Jahren nach dem Kalten Krieg setzte die Schweiz genau darauf – auf Gerechtigkeit statt Machtpolitik, auf Partnerschaft statt Panzer.

Neue, jetzt veröffentlichte diplomatische Dokumente belegen: Die Schweizer Aussenpolitik suchte in den 1990er Jahren nach Alternativen zur militärischen Logik. Im März 1994 verabschiedete der Bundesrat das Leitbild Nord-Süd. Das Dokument ergänzte den Aussenpolitischen Bericht und stellte die Weichen für eine umfassende Entwicklungspolitik. Statt sich nur auf klassische Entwicklungshilfe zu beschränken, rückte das Leitbild sämtliche Beziehungen der Schweiz zum Süden in den Fokus. Die klare Botschaft: Umwelt-, Wirtschafts-, Migrations-, Handels- sowie Innen- und Aussenpolitik lassen sich nicht länger isoliert betrachten – es braucht eine kohärente Südpolitik, die Zielkonflikte zwischen nationalen Eigeninteressen und globaler Verantwortung offenlegt.

Die vergessene Vision der Schweizer Entwicklungspolitik

Bundesrat Flavio Cotti brachte es damals auf den Punkt: «A long terme, un succès en matière de politique d’aide au développement représentera la meilleure garantie de sécurité pour notre pays. Toute évolution qui irait vers des crises sociales internationales importantes ne ferait qu’augmenter les dangers stratégiques.» Die Schweiz setzte sich dafür ein, dass Entwicklungsländer Rüstungsausgaben senken und stattdessen in Bildung, Gesundheit, Armutsbekämpfung investieren. Entwicklung wurde verstanden als Beitrag zu Sicherheit und Frieden.

Hinter dem Leitbild stand eine ungewöhnlich breite Allianz aus Hilfswerken, Wirtschaft, Verwaltung und Parlament. «Wir waren unter den Bundesämtern ein Vorreiter im globalem Denken und Handeln», erinnert sich Adrian Hadorn, ehemaliger Leiter der Sektion Politik und Forschung bei der Deza, die bei Erarbeitung und Umsetzung des Leitbilds federführend war. Die Deza forderte als «Stachel im Fleisch» der Bundesverwaltung, dass die gesamte Aussen- und Innenpolitik nachhaltige Entwicklung ins Zentrum rückt, sagt Hadorn. Tatsächlich sei die Schweiz international eine Pionierin gewesen. In der OECD mahnte sie mit Gleichgesinnten eine gerechtere Politik gegenüber dem Süden an, inspiriert auch von Konferenzen wie der Rio-Konferenz und der UN-Agenda für den Frieden 1992. «Damals verfolgte Bern das Ziel, globale Gerechtigkeit und Frieden aktiv mitzugestalten. Heute dagegen fällt die Deza auf humanitäre Hilfe zurück – ein Rückschritt.»

Es mangelt nicht an Konzepten, sondern am politischen Mut

Was bleibt vom Leitbild Nord-Süd? Entstanden in einer aussergewöhnlichen Phase des 20. Jahrhunderts – mit dem Ende des Kalten Kriegs, rasanter Globalisierung und der Rio-Konferenz als Weichensteller für Nachhaltigkeit – verlor es nach 9/11 und dem «Krieg gegen den Terror» rasch an Bedeutung. Inzwischen ist die Welt noch instabiler geworden. Die Eskalationsgefahr wächst, UNO-Generalsekretär warnt vor einer «Welt ausser Kontrolle». Klimakrise, Wettrüsten, soziale Ungleichheiten – die globalen Herausforderungen sind drängender denn je.

Drei Jahrzehnte nach seiner Verabschiedung wirkt das Leitbild überraschend aktuell. Es basiert auf den Verfassungszielen der schweizerischen Aussenpolitik: Linderung von Not und Armut, Achtung der Menschenrechte, Förderung der Demokratie, friedliches Zusammenleben der Völker und Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen. Gleichzeitig bleibt die Kernidee des Leitbilds – eine kohärente Politik, die Innen-, Aussen- und Wirtschaftspolitik auf nachhaltige Entwicklung ausrichtet – bis heute unerfüllt. Wirtschaftliche Interessen kollidieren oft mit den offiziellen Werten der Aussenpolitik: Die Schweiz verhängt Sanktionen gegen Russland, doch die Firmen, die vor Kriegsbeginn 75% der russischen Kohleexporte abwickelten, existieren weiter – nur unter neuen Namen. Die Schweiz propagiert Klimaschutz, während Schweizer Konzerne im Globalen Süden immer wieder die Umwelt zerstören. Die Liste liesse sich verlängern.

Heute steht die Schweizer Aussenpolitik erneut am Scheideweg. Verharrt sie im Reduit nationaler Sicherheit oder knüpft sie an ihre humanitäre Tradition und die Grundwerte der Aussen- und Entwicklungspolitik an? Der Kompass liegt bereit – mit der Agenda 2030, dem UNO-Zukunftspakt und einer ambitionierten Entwicklungspolitik wie dem Leitbild Nord-Süd. Doch es braucht politischen Mut und den Willen zum Handeln. Sicherheit durch Entwicklung – kein Anachronismus, sondern eine Antwort auf die Krisen der Gegenwart.

 

#Nachhaltige Entwicklung #Schweizer Aussenpolitik #Sicherheit

Das Dokument und der Autor

Sacha Zala et al. (ed.), Diplomatische Dokumente der Schweiz 1994, Dok. 22, Bern: Dodis 2025, 436 Seiten.

René Holenstein, Dr. phil./Historiker, ist Mitglied der Schweizerischen Gesellschaft für Aussenpolitik.

 

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