Die Schweiz und ihr Verhältnis zur EU aus europäischer Warte zu betrachten, ist selten. Unser Vorstandsmitglied Gilbert Casasus tut es. Auf Französisch haben wir seinen neuen Essay bereits besprochen – hier folgt die Rezension in deutscher Sprache.
Il faut appeler un chat un chat, scheint sich der emeritierte Freiburger Professor für Europastudien, Gilbert Casasus, gesagt haben. Resultat ist ein 150-seitiger Essay, der es in sich hat. Der schweizerische Europadiskurs sei realitätsfremd, konstatiert der Autor, er beruhe auf Unkenntnis und auf Illusionen. Aber auch die Europäische Union bekommt ihr Fett ab: sie habe sich von der Schweiz über den Tisch ziehen lassen und tue sich nun schwer, aus der selbst gestellten Falle herauszufinden. Ungewohnte Töne!
Das ist begründungsbedürftig – und der Autor bleibt die Begründung nicht schuldig. Unter dem neckischen Titel «Suisse – Europe, Je t’aime, moi non plus!» präsentiert Casasus temperamentvoll eine schonungslose Analyse des Verhältnisses Schweiz-EU im Allgemeinen und des schweizerischen Europa-Diskurses im Besonderen.
Der hierzulande zum «Königsweg» kanonisierte «Bilateralismus» ist im Urteil des Autors nicht mehr als eine zeitlich befristete Hilfskonstruktion: eine Ausweichroute nach dem EWR-Absturz, eine solitäre Insellösung, von den europäischen Partnern hingenommen im Hinblick auf den (angeblich) absehbaren Beitritt, in der Schweiz als bequemes Ruhekissen und als nicht mehr hinterfragtes «provisoire qui dure» hochgejubelt, in der erweiterten EU aber als privilegierter Sonderstatus immer kritischer beäugt, todgeweiht nach der (grobfahrlässigen) Versenkung des Rahmenabkommens, ein Akt uneingestandener Selbst-Satellisierung gegenüber der Union, eine Sackgasse mit nahendem Verfalldatum.
Wie weiter? In den derzeit laufenden Verhandlungen sieht Casasus im Wesentlichen ein Treten an Ort, und er findet wenig schmeichelhafte Worte für die bundesrätliche «Abnützungsstrategie». Die Schweiz entfremde sich damit ihre europäischen Partner immer mehr. Bilaterale III? Möglich, aber als weiterer Schritt in eine verfehlte Richtung nicht wirklich wünschenswert. Für Casasus bloss «la poursuite d’un itinéraire d’un enfant gâté avec lequel ses camarades aiment de moins en moins jouer». Ein aufdatiertes Freihandelsabkommen als Alternative? Es genügt, über den Ärmelkanal zu blicken, um zu wissen, was ein Ausstieg à la Brexit anrichtet.
Die Schweiz hat sich in Casasus’ Sicht verrannt in eine ebenso unnötige wie selbstbeschädigende Sonderfall-Rolle. Sie pflegt ein Souveränitätsverständnis, das mit den Realitäten nichts mehr gemein hat. Innerhalb des sich integrierenden Kontinents alleine souverän sein zu wollen, ist für ihn blosse Chimäre. Die helvetische Politik lässt sich seit spätestens 1992 von Nationalisten und Isolationisten vor sich hertreiben. Das müsste nicht so sein. Dem souveränen Land angemessen wäre eine gleichberechtigte Mitwirkung am europäischen Projekt. Wie etwa Luxemburg es vormacht, könnte die Schweiz innerhalb der europäischen Institutionen eine bedeutende Rolle spielen, Europa von ihren Erfahrungen profitieren lassen und gleichzeitig ihre Interessen effizient wahrnehmen, anstatt sich in Klimmzügen und Verrenkungen des einsamen Sonderweges zu erschöpfen.
Weshalb tut sich die Schweiz so schwer mit Europa, wo sie doch als mehrsprachiger, weltoffener Bundesstaat geradezu prädestiniert wäre, in Europa eine Pionierrolle zu spielen? Die Schweiz, so Casasus, ist in der Mentalität des «Réduit» steckengeblieben, so als müssten wir uns ständig gegen böse Nachbarn wehren. Europa wird als Sache der Anderen aufgefasst, die europäischen Institutionen gelten weithin als prinzipiell feindlich. Dem Einigungsprozess, der dem Kontinent seit sieben Jahrzehnten Stabilität, Prosperität und Frieden beschert hat, wird mit Desinteresse, wenn nicht Geringschätzung ja Häme begegnet. Dabei ist das europäische Projekt der Schweiz abgeschaut, und wir hatten in unserer Geschichte noch nie bessere Nachbarn.
Das reale Europa spiele im öffentlichen Diskurs in der Schweiz praktisch keine Rolle, diagnostiziert Casasus. Was interessiere, seien lediglich unsere Wünsche und Ansprüche an Europa. Auch in der schweizerischen Bildungslandschaft sei Europa bloss ein Waisenkind. Scharf geisselt der Autor die zunehmende «judicarisation» der Europadebatte. Nicht weil er etwas gegen Juristen hat, aber weil er das Überhandnehmen der juristischen Detailarbeit gegenüber der politischen Gesamtsicht als fatal erachtet. Immer verbisseneres Sezieren technischer Einzelheiten lässt Lösbares immer unlösbarer erscheinen, schreckt die Öffentlichkeit ab und spielt damit Zauderern und Nationalisten in die Hände.
Warum klingt die Analyse hier so anders als wir es gewohnt sind? Ganz einfach: Was wir gewohnt sind, ist helvetische Nabelschau. Casasus hingegen geht vom grösseren Bild aus. Seine Argumentationsebene ist eine europäische. Der Platz der Schweiz, der sich dabei herausschält, ist keineswegs unattraktiver als der, den wir kennen. Brillante Analyse, fruchtbarer Perspektivwechsel!
Kurz und Kräftig. Die wöchentliche Dosis Aussenpolitik von foraus, der SGA und Caritas. In der Ausgabe Nr. 466, November 2024, steht die Migrationsvereinbarung der EU mit Tunesien im Fokus. Zahlreiche Flüchtlinge sind unmenschlichen Bedingungen und Abschiebungen in Wüstengebiete ausgesetzt, was zu Spannungen auf der geopolitischen Ebene führt. Espresso Nr. 466 | 19.11.2024
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