Editorial

Schweiz wohin?

Seit diesem Jahr ist die Schweiz für zwei Jahre nichtständiges Mitglied im UNO-Sicherheitsrat. Der Einsitz in einem der zentralen Organe der Weltpolitik ist Ausdruck einer weltoffenen Schweiz. Er zeigt das Bild einer Schweiz die Verantwortung übernimmt und die sich gemäss ihrem in der Verfassung niedergeschrieben Staatszweck für eine dauerhafte Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen und für eine friedliche und gerechte internationale Ordnung einsetzt.

Der Kontrast zur Europapolitik der Schweiz könnte grösser nicht sein. Die Beziehungen zur EU sind derzeit geprägt von einer verstörenden Orientierungslosigkeit. Und auch in Bezug auf die Haltung zum Krieg in der Ukraine hat die Schweiz ihre Rolle noch nicht gefunden. Sei es bei den Verhandlungen zu den institutionellen Fragen der Binnenmarktintegration oder der Unterstützung der Ukraine in ihrem Kampf gegen die völkerrechtswidrige Aggression Russlands: der Bundesrat und die Mehrheit des Parlaments verstricken sich in Sachzwängen und Detailfragen, und verlieren zunehmend den Blick fürs Ganze.

Gerade die Schweiz mit ihren starken föderalistischen und demokratischen Institutionen wäre jedoch prädestiniert dafür, sich stärker in Europa zu engagieren und mehr Verantwortung für die Weiterentwicklung der europäischen Staatengemeinschaft zu übernehmen. Dafür sprechen nicht zuletzt geografische, historische und wirtschaftliche Fakten. Die Schweiz liegt mitten in Europa. Sie teilt mit der grossen Mehrzahl von europäischen Staaten ihre liberalen, demokratischen und rechtsstaatlichen Grundwerte. Sie ist fast wie kein anderes Land wirtschaftlich und gesellschaftlich mit der europäischen Staatengemeinschaft verflochten. Die Schweiz gehört zu denjenigen Volkswirtschaften, die am meisten vom europäischen Binnenmarkt profitieren. Nicht zuletzt aus eigenem Interesse entstammt bereits heute ein wesentlicher Teil des Schweizer Rechts der Gesetzgebung der EU.

Unter dem Dach der EU rücken die europäischen Staaten immer näher zusammen. Der Klimaschutz, die Sicherung der Energieversorgung, die Regulierung von digitalen Plattformen und die Unternehmensverantwortung sind nur einige Bereiche, in denen der Prozess der europäischen Integration rasant voranschreitet. Die EU begegnet den grossen Herausforderungen unserer Zeit mit einer Dynamik, mit welcher die Schweiz auf ihrem Sonderweg kaum Schritt halten kann. Dennoch ist sie aufgrund ihrer geografischen Lage und der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verflechtungen unweigerlich von ihr betroffen.

Augenfällig zeigen sich die Mühen der Schweiz auf ihrem Sonderweg auch im Ukraine Krieg. Die europäische Staatengemeinschaft betrachtet den völkerrechtswidrigen Angriff Russlands auf die Ukraine nicht bloss als ein regionales Ereignis, sondern – zu Recht – als einen Angriff auf die europäischen Grundwerte und auf das freiheitliche, demokratische europäische Gesellschaftsmodell schlechthin. Die Schweiz ist derweil gefangen in einer überholten Definition der Neutralität. Die sture Weigerung des Bundesrats, die Wiederausfuhr von früher an demokratische Staaten verkaufte Waffen in die Ukraine zu bewilligen, stösst bei den europäischen Partnerstaaten auf grosses Unverständnis. Zur Unzeit pocht der Bundesrat auf eine strikte Form der Neutralität, welche die Schweiz in ihrer Geschichte kaum je praktiziert hat.

Verbunden mit diesem Neutralitätsverständnis ist auch die Hoffnung weiter Kreise, die Schweiz könne eine entscheidende Rolle als Vermittlerin zwischen Russland und der Ukraine spielen. Vor dem Hintergrund der ausgewiesenen diplomatischen Erfahrung der Schweiz wäre dies zur gegebenen Zeit sehr zu begrüssen. Es ist aber fraglich, ob die Schweiz aufgrund ihrer geopolitischen Lage gerade in diesem Konflikt diese Rolle überhaupt wahrnehmen könnte und will. Denn sie ist, anders als z.B. die ebenfalls bereits vermittelnd tätig gewordene Türkei, Teil der demokratischen, liberalen Staatengemeinschaft, die durch Russlands Aggression gegen die Ukraine besonders herausgefordert und betroffen ist.

Die Schweiz steht vor einem umfassenden Richtungsentscheid. Wir brauchen einen europapolitischen Aufbruch. Die Schweiz muss dazu bereit sein, sich stärker als bisher aktiv für die demokratische, rechtsstaatliche und nachhaltige Weiterentwicklung unseres Kontinents einzusetzen. Das gegenwärtige einengende und paralysierende Verhandlungskleinklein muss überwunden werden zugunsten einer Politik, welche die Chancen der europäischen Integration in den Vordergrund stellt. Ansonsten droht der Schweiz ein schleichender Rückfall in die Isolation.

Dabei dürfen wir uns keinen Illusionen hingegeben. Selbst wenn die laufenden Bemühungen des Bundesrats für einen Paketlösung bei den institutionellen Fragen erfolgreich sein sollten: ohne ein umfassendes, langfristig stabiles Integrationsmodell wird die Europapolitik der Schweiz eine ewige Baustelle bleiben. Zur Zeit stehen nur zwei solche Modelle zur Verfügung: der Beitritt zur EU oder zum EWR. Ob dereinst ein weiteres Modell entsteht, z.B. als Resultat von Verhandlungen zwischen der Schweiz und der EU zu den institutionellen Fragen, wird sich weisen. Natürlich ist jeder Integrationsschritt auch mit besonderen Herausforderungen verbunden, z.B. durch eine deutlich weiter als heute gehende dynamische Übernahme des EU-Rechts. Diese werden jedoch mehr als aufgewogen durch die Chancen, die EU und mit ihr die europäische Integration mitzugestalten, von unten nach oben, getreu nach der föderalistischen Tradition der Schweiz.

Espresso Diplomatique

Kurz und Kräftig. Die wöchentliche Dosis Aussenpolitik von foraus, der SGA und Caritas. In der Ausgabe Nr. 466, November 2024,  steht die Migrationsvereinbarung der EU mit Tunesien im Fokus. Zahlreiche Flüchtlinge sind unmenschlichen Bedingungen und Abschiebungen in Wüstengebiete ausgesetzt, was zu Spannungen auf der geopolitischen Ebene führt.   Espresso Nr. 466 | 19.11.2024  

Eine Aussenpolitik für die 
Schweiz im 21. Jahrhundert

Neue Beiträge von Joëlle Kuntz (La neutralité, le monument aux Suisses jamais morts) sowie von Martin Dahinden und Peter Hug (Sicherheitspolitik der Schweiz neu denken - aber wie?)

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