Wochenrückblick

Schweiz im Sicherheitsrat (KW 34, 2024)

Themen der Woche: Humanitäre Hilfe, Friedensförderung und Konfliktprävention, Gaza, Libanon, Libyen

Humanitäre Hilfe: Auf Antrag der Schweiz und Sloweniens hat der Rat sich mit der Häufung von Angriffen auf Personal und Einrichtungen humanitärer Hilfsorganisationen befasst. Die Sitzung war “geschlossen”, das heisst, die Ratsmitglieder äusserten sich nicht öffentlich. Nach der Sitzung trat der sierra-leonische Ratspräsident allerdings vor das UNO-Mikrophon und verkündete “Presseelemente” – Aussagen, die im Rat unbestritten waren. Er sagte, dass die Ratsmitglieder über die Lage des humanitären Personals auf der ganzen Welt “hoch alarmiert” seien, insbesondere gelte das für Personen, die national oder lokal rekrutiert werden. Gemäss dem Ratspräsidenten riefen die Ratsmitglieder die völkerrechtlichen Pflichten und Verantwortlichkeiten zum Schutz der humanitären Hilfe in Erinnerung, forderten“sicheren und ungehinderten Zugang” zu ihr und riefen alle Staaten auf, “die unabhängige Untersuchung und Strafverfolgung” der Verantwortlichen für “schwerwiegende Verletzungen des humanitären Völkerrechts” sicherzustellen. Laut UNO-Angaben sind im vergangenen Jahr 280 humanitäre Helferinnen und Helfer in 33 Ländern getötet worden, mehr als doppelt so viele wie im Vorjahr, was 2023 zum “tödlichsten Jahr der Geschichte” macht. Für das laufende Jahr nennt die UNO bis zum 7. August 172 Tötungen. Die grosse Mehrzahl entfällt auf die blutigen Konflikte in der Ukraine, im Sudan und im Gazastreifen. Die Schweiz hat sich im Rat konsequent für den “humanitären Zugang” zu Konfliktgebieten und für den Schutz des humanitären Personals sowohl privater Organisationen (Beispiel: Internationales Komitee vom Roten Kreuz IKRK) und der UNO eingesetzt. Zahlreiche Resolutionen haben seit Jahren die völkerrechtlichen Verpflichtungen zum Schutz der humanitären Hilfe und des humanitären Personals bekräftigt. Im vergangenen Mai verabschiedete der Rat eine von der Schweiz eingebrachte Resolution, die den UNO-Generalsekretär verpflichtet, über “weitverbreitete” Probleme bei der Sicherheit der humanitären Hilfe Bericht zu erstatten.

Friedensförderung und Konfliktprävention: Im Hinblick auf den UNO-“Zukunftsgipfel” im kommenden September hat der Rat die Bedeutung von vorbeugenden Massnahmen gegen die überhandnehmenden blutigen Konflikte debattiert. Sie sind ein zentrales Element der “Neuen Agenda für den Frieden”, die der UNO-Generalsekretär vor einem Jahr vorgeschlagen hat. Die Idee: Konfliktpotenziale früh erkennen, durch geeignete Massnahmen entschärfen, und gleichzeitig die Widerstandskraft von Gesellschaften gegen die gewaltsame Austragung von Konflikten stärken. Es tönt schlüssig, bis es an die praktische Umsetzung geht. Welche Massnahmen wie und durch wen ergriffen werden sollen, ist im Einzelnen umstritten. Die Differenzen waren hinter der Front genereller Zustimmung schemenhaft sichtbar. Die Afrikanische Union verlangte Geld. Frankreich und Japan empfahlen stärkeren Verlass auf die Peacebuilding Commission der UNO, welche die wichtigsten Akteure aus dem Norden und Süden vereinigt.  Südkorea empfahl den Einbezug regionaler Organisationen und pochte auf die zentralie Bedeutung  nationaler Regierungen (national ownership). Russland forderte als erstes eine neue Weltordnung an der Stelle der “verschwindenden Hegemonie” ehemaliger Kolonialmächte. China erklärte, der Schlüssel zu jedem Frieden liege in der wirtschaftlichen Entwicklung. Grossbritannien ergänzte dies durch die Forderung, die Strategien müssten “lokal verwurzelt und auf den Menschenrechten gegründet” sein. Sierra Leone beschrieb die Erfahrungen auf seinem erfolgreichen Weg aus dem zwanzig Jahre zurückliegenden Bürgerkrieg. Die Schweiz erklärte, neuere Studien zeigten auf, welche Elemente Erfolg versprechen: Sicherheit und Unabhängigkeit des Justizsystems, Förderung von “Toleranz, Solidarität und Inklusion”, Anpassung an die Auswirkungen des Klimawandels. Sie forderte den Rat auf, seine Mandate für UNO-Missionen in Konfliktgebieten so auszustatten, dass sie Konfliktrisiken erkennen können. Im Anschluss an die Sitzung traten Sierra Leone, Slowenien und die Schweiz – die Ratspräsidentschaften bis Oktober – gemeinsam vor die Presse, um der “Neuen Agenda für den Frieden” ihre Unterstützung zu versichern.

Gaza: An der monatlichen Sitzung zur Lage im Nahen Osten wurden die unterschiedlichen Ansichten zum anhaltenden Krieg im Gazastreifen wiederholt. Der UNO-Sondergesandte sagte, die gesamte Region sei wegen der Gewaltakte in Teheran, Beirut (israelische Tötungen von feindlichen Anführern), Tel Aviv und Hodeïda (Huthi-Angriff und Vergeltung) und auf den Golanhöhen “an einem Wendepunkt”. Ein Waffenstillstand und die Befreiung der Geiseln sei “jetzt” nötig. Die Palästinensische Autonomiebehörde müsse “im Zentrum der Regierung” der israelisch besetzten Gebiete stehen. Als neuen Faktor erwähnte er den Ausbruch von Polio in Gaza. Ende Monat soll eine Impfkampagne beginnen. Die Vereinigten Staaten beteuerten, an einem Waffenstillstandsabkommen zu arbeiten. Der israelische Regierungschef habe ein “Überbrückungsabkommen” (befristete Waffenruhe, Freilassung eines Teils der Geiseln) akzeptiert, und nun müsse Druck auf Hamas ausgeübt werden, denselben Schritt zu tun. Israel bekräftige, sein Kriegsziel sei die Ausschaltung der Hamas. Die Schweiz wiederholte die Forderung nach uneingeschränkter Einhaltung des Kriegsrechts. Sie zeigte sich besorgt über den Bericht des UNO-Flüchtlingskommissars über Misshandlungen der israelischen Geiseln und palästinensischer Gefangener. Sie legte viel Gewicht auf die “Hetze, Provokationen, einseitigen Aktionen und Gewaltakte” im besetzten Westjordanland. Die israelischen Siedler könnten dort “sozusagen ungestraft” handeln. Als jüngste Belege griff die Schweiz den Siedler-Angriff auf den palästinensischen Ort Jit (1 Todesopfer) und den erneuten Besuch des israelischen Sicherheitsministers auf dem arabischen Tempelberg in Jerusalem heraus. Der Status der Heiligen Stätten in Jerusalem und der Wächterfunktion Jordaniens müssten “strikte respektiert” werden.

Libanon: Hinter geschlossenen Türen hat der Rat einen Bericht des zuständigen UNO-Beamten über die Lage im Land, insbesondere die militärische Gewalt an der israelisch-libanesischen Grenze, angehört.

Libyen: Die stellvertretende UNO-Sondergesandte (der Chefposten ist seit April vakant) klagte, “einseitige Handlungen” von Akteuren in Militär, Politik und Sicherheitskräften hätten die Spannungen im Land verschärft und die Chancen einer Beilegung der seit dem Sturz von des Diktatoren Gaddafis herrschenden Konflikte weiter erschwert. Die USA sprachen von “steigender Unstabilität” an der Südgrenze des Landes und von russischer Einflussnahme (Russland: “freundschaftliche Zusammenarbeit”). Die Schweiz wies auf die Verschlechterung der humanitären Situation hin, insbesondere unter den sudanesischen Flüchtlingen, die Misshandlungen und Diskrimination ausgesetzt seien. Sie erklärte, freie Wahlen seien der einzige Ausweg aus der Krise. Wie zahlreiche andere Ratsmitglieder beklagte sie Hass und Verfolgung “politisch aktiver Frauen”. Die Beteiligung der Frauen am politischen Leben in Libyen ist gegenüber den Anfängen des “arabischen Frühlings” dramatisch zurückgegangen. Die Ratsmitglieder, die sich den Zielen von “Frauen, Frieden, Sicherheit” verschrieben haben (Ecuador, Frankreich, Guyana, Japan, Malta, Südkorea, Sierra Leone, Slowenien, Schweiz, Grossbritannien und die Vereinigten Staaten) traten mit einer gemeinsamen Erklärung vor das UNO-Mikrophon.

Schweizer Erklärungen

 

 

#Multilateralismus #Schweiz im Sicherheitsrat

Espresso Diplomatique

Kurz und Kräftig. Die wöchentliche Dosis Aussenpolitik von foraus, der SGA und Caritas. In der Ausgabe Nr. 466, November 2024,  steht die Migrationsvereinbarung der EU mit Tunesien im Fokus. Zahlreiche Flüchtlinge sind unmenschlichen Bedingungen und Abschiebungen in Wüstengebiete ausgesetzt, was zu Spannungen auf der geopolitischen Ebene führt.   Espresso Nr. 466 | 19.11.2024  

Eine Aussenpolitik für die 
Schweiz im 21. Jahrhundert

Neue Beiträge von Joëlle Kuntz (La neutralité, le monument aux Suisses jamais morts) sowie von Martin Dahinden und Peter Hug (Sicherheitspolitik der Schweiz neu denken - aber wie?)

Livre (F), Book (E), Buch (D)

Zu den Beiträgen

Schweiz im Sicherheitsrat

Das Schweizer Mandat im UNO-Sicherheitsrat (2023 und 2024) fällt in turbulente Zeiten, der Rat hat Schwierigkeiten, in den grossen Fragen Entscheide zu fällen. Jeden Samstag fassen wir das Ratsgeschehen und die Haltung der Schweiz zusammen.

Infoletter «Schweiz im Sicherheitsrat» abonnieren Alle Berichte FAQ – Schweiz im Sicherheitsrat