Noch ein Wirtschaftssektor, mit dem die Schweiz global für wenig erbauliche Schlagzeilen sorgt, in der Schweiz aber zu Unrecht wenig beachtet wird. Zumindest bisher. Mit der Neuerscheinung «Seefahrtsnation Schweiz» drängen sich dem Land neue unbequeme Fragen auf.
2. Januar 2019: Eines der weltweit grössten Containerschiffe verlor 342 Container im niederländischen Naturschutzreservat der westfriesischen Insel Schiermonnikoog. Tonnen von Möbeln, Autoteilen, Kinderspielzeug bis zu giftigen Chemikalien und Mikroplastik hatten den Strand zugedeckt. Weitere 1’000 Container sollen an Bord aufgebrochen sein. Die Schäden waren enorm, längst nicht alle wurden behoben. Es kam zu Rechtsstreitigkeiten über die Höhe der Entschädigungen und wer dafür aufkommen sollte.
Binnenland, aber Grossnation auf den Weltmeeren
Der Fall steht exemplarisch für den erstaunlich zurückhaltend formulierten Buchtitel «Seefahrtsnation Schweiz, Vom Flaggenzwerg zum Reedereiriesen», den Co-Autor Mark Pieth und Co-Autorin Kathrin Betz als Einstieg in ihr Werk rekapituliert haben. Betrieben wurde das Containerschiff von der Schweizer Reederei MSC, einem in Genf domizilierten diskreten Unternehmen der Eigentümerfamilie Aponte. So wenig bekannt das Unternehmen auch sein mag, es ist eines der ganz grossen auf den Weltmeeren: das grösste unter den grossen Containerschifffahrtsunternehmen der Welt und die Nummer drei der Kreuzfahrtunternehmen. Aber nicht nur MSC ist gross. Die Schweiz selbst, obwohl Binnenland, ist über die Jahre zur viertgrössten Seefahrtsnation Europas aufgestiegen und rangiert weltweit als Nummer neun aller Schifffahrtsnationen.
Damit sind die Geheimnisse auf den Weltmeeren noch längst nicht offengelegt. Die Strukturen, die sich hinter den Schiffen verbergen, sind verschachtelt und vor allem intransparent. Reeder und Eigentümer sind nicht identisch. Die Schiffe werden meist gechartert, Eigentümer ist häufig eine «Ein-Schiff-Gesellschaft» mit Sitz an einem Offshore-Ort. Die wenigsten Schiffe, die von der Schweiz aus betrieben werden, sind hier registriert. Zu 90 Prozent sind sie in ein Billigflaggenland «ausgeflaggt». Der von MSC betriebene Unfalltanker «MSC Zoe» war im Eigentum einer in Hongkong domizilierten «Ein-Schiff-Gesellschaft» und in Panama registriert. Der eigentliche wirtschaftliche Berechtigte des Schiffes ist unbekannt. Denn – so Pieth und Betz – «Intransparenz ist ein weiteres Wesensmerkmal der Schifffahrt».
Autor und Autorin holen in ihrem Buch weit aus, blicken zurück in die Geschichte der Schweizer Hochseeflagge, legen die Gründe für den Aufstieg der Schifffahrtsnation Schweiz offen, zeigen die Verknüpfungen zwischen der Branche und dem in der jüngeren Vergangenheit zusehends wichtiger gewordenen Rohstoffhandelsplatz Schweiz auf, verweisen auch auf wenig ruhmreiche Skandale. Es folgt der Blick auf die globale Ökonomie der Schifffahrt im Kontext der Globalisierung, auf die Eigenheiten des Schiffbaus, seiner Finanzierung und der Eigentümerschaft, danach der Blick ins Innere der Schiffe mit meist prekären Arbeitsverhältnissen. Das Buch legt auch schonungslos offen, wie die Schifffahrt mit der Umwelt auf Kollisionskurs steuert.
Eine Trilogie über Risikobranchen des Landes
Seefahrt ist nur das neuste und bisher in der Öffentlichkeit nicht wahrgenommene Reputationsrisiko der Schweiz. Es ist aufs engste verbandelt mit dem Risikosektor Rohstoffe und ähnelt in seiner fehlenden Transparenz dem Goldraffineriestandort Schweiz. In allen drei Bereichen ist die Schweiz der globale Hub, der verschwiegen ist und der Klientel Privilegien seltenster Art bietet.
Es ist das Verdienst des Verlags Elster & Salis mit den Buchtiteln «Rohstoffe das gefährlichste Geschäft der Schweiz» (2011), «Goldwäsche, die schmutzigen Geheimnisse des Goldhandels» (2019) und nun neu «Seefahrtsnation Schweiz, Vom Flaggenzwerg zum Reedereiriesen» (2022) in einer Art Trilogie Licht in die Dunkelkammern dieser drei Schweizer Risikobranchen gebracht zu haben. Wenig Erbauliches wurde sichtbar. Wegschauen war selbst für die Politik nicht mehr möglich. Der Bundesrat musste sich unbequemen Fragen stellen, war bei Gold- und anderen Rohstoffgeschäften bereit, ein klein wenig Transparenz zu schaffen und Probleme in den Lieferketten einzugestehen.
Bei der Schifffahrt sieht es noch nicht danach aus. Finanzminister Ueli Maurer will ihr neue Steuerprivilegien zuhalten. Ob es ihm gelingt im Parlament eine Mehrheit zu erreichen ist noch offen. Pieth und Betz liefern gerade zur rechten Zeit die Fakten und Zusammenhänge der internationalen Schifffahrt, um der Diskussion in der Politik neue Nahrung zu geben.
Mark Pieth & Kathrin Betz, Seefahrtsnation Schweiz, Vom Flaggenzwerg zum Reedereiriesen, Verlag Elster & Salis AG, Zürich 2022, 280 Seiten, CHF 32.00
Kurz und Kräftig. Die wöchentliche Dosis Aussenpolitik von foraus, der SGA und Caritas. In der Ausgabe Nr. 466, November 2024, steht die Migrationsvereinbarung der EU mit Tunesien im Fokus. Zahlreiche Flüchtlinge sind unmenschlichen Bedingungen und Abschiebungen in Wüstengebiete ausgesetzt, was zu Spannungen auf der geopolitischen Ebene führt. Espresso Nr. 466 | 19.11.2024
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