Der Réduit-Reflex feiert in Bundesbern wieder einmal Urständ. Sicherheitspolitik wird mit militärischer Landesverteidigung gleichgesetzt. Dabei wäre sie in erster Linie Aussenpolitik. Die aber kommt unter die Panzerräder.
Die Réduit-Strategie von General Guisan während des Zweiten Weltkrieges galt in den Jahrzehnten danach als Lebensretterin der Schweiz vor dem Nationalsozialismus. Entsprechend hoch stand die Armee im Ansehen der Bevölkerung. Nach einer Phase von patriotischer Abkühlung und wissenschaftlicher Forschung kam ein anderes Bild zum Vorschein: Die Réduit-Strategie hätte zwar die Berge verteidigt, nicht aber die Zivilbevölkerung. Die hätte sie geopfert. Es war auch nicht die militärische Landesverteidigung, die Hitler vom Einmarsch in die Schweiz abhielt, sondern die wirtschaftliche Kooperation mit ihr.
Nach den jüngsten Debatten und Entscheiden der eidgenössischen Räte hat man nicht den Eindruck, dass diese Erkenntnisse bis zur Mehrheit der Parlamentarierinnen und Parlamentarier vorgedrungen seien. Anders ist nicht zu erklären, dass unter sicherheitspolitischen Vorzeichen derart krass und einseitig auf die Erhöhung der Militärausgaben gesetzt wurde. Der Réduit-Reflex hat alle aktuellen, offiziellen Bedrohungsanalysen zur Makulatur gemacht. Es wurden für die Armee massiv Kredite aufgestockt ohne zu wissen, wofür genau das Geld denn ausgegeben werden soll. So aber schafft man keine Sicherheit, sondern tut nur so.
Der frühere Schweizer Botschafter Martin Dahinden hat in einem Beitrag zum SGA-Handbuch «Eine Aussenpolitik für die Schweiz im 21. Jahrhundert» zu Recht angemahnt, Sicherheitspolitik müsse mit einer seriösen Risikoanalyse beginnen. Zu benennen und zu priorisieren seien die real existierenden Bedrohungen für die Bevölkerung. Erst auf der Grundlage dieser Analyse könnten die konkreten Massnahmen beschlossen werden, die mehr Sicherheit schaffen würden. In einem TV-Interview hat Dahinden denn auch die Parlamentsbeschlüsse harsch kritisiert.
Der Historiker Peter Hug listete – ebenfalls in einem aktuellen Beitrag zum SGA-Handbuch – die neun zentralen Politikbereiche auf, in denen Sicherheitspolitik angesiedelt ist beziehungsweise anzusiedeln wäre. Er zitierte den sicherheitspolitischen Bericht des Bundesrates von 2021. Sieben von diesen neun im Vordergrund stehenden Bedrohungslagen sind ausschliesslich ziviler Natur, zwei sowohl ziviler als auch militärischer. Allein das deutet schon den Stellenwert der militärischen Landesverteidigung an. Sie kann und soll eine Rolle spielen bei der Herstellung von Sicherheit, aber um dieser Rolle gerecht zu werden, muss sie richtig konzipiert und dimensioniert sein.
Niemand rechnet mit einem militärischen Angriff auf die Schweiz. Sie ist rundum von NATO-Mitgliedstaaten umgeben, die uns nicht angreifen werden. Sie sind im Gegenteil unser Schutzschild. Sie würden vor uns angegriffen und sich und uns militärisch verteidigen. Nötig aber ist der Schutz der Bevölkerung vor Drohnenangriffen, Cyberangriffen und vor Angriffen auf kritische Infrastrukturen wie etwa Stauseen oder Atomkraftwerke. Dazu taugen aber weder teure Panzer noch Kampfflugzeuge. Dafür braucht es diesen Risiken angemessene militärische Mittel und Methoden. Auch gegen Pandemien können schwere Waffen nichts ausrichten, und die sinnvolle Unterstützung der zivilen Behörden bei Notlagen und Naturkatastrophen durch die Armee bedarf ebenfalls keiner noch so gesteigerten Feuerkraft.
Eine auf die genannten Einsatzbereiche vorbereitete und ausgerüstete Armee der Zukunft wäre nach den Berechnungen von Peter Hug «deutlich kostengünstiger als die heutige» und würde dennoch «ein weit breiteres Feld von Bedrohungen» abdecken. Die jetzt beschlossene Aufrüstung der Armee ist vor diesem Hintergrund also ebenso teuer wie nutzlos – wie es das Réduit war.
Die genannten militärischen wie die viel massgebenderen zivilen Risiken sind allesamt grenzüberschreitender Natur und müssen folglich auch grenzüberschreitend bekämpft werden. Zum Beispiel:
– Der Kampf gegen den Terrorismus erfordert internationale Polizeizusammenarbeit;
– Der Kampf gegen Pandemien macht nur mit internationaler Gesundheitspolitik Sinn;
– Wer Versorgungsengpässe vermeiden will, muss sich um eine international abgestimmte Lieferkettenpolitik bemühen;
– Naturkatastrophen als Folgen des Klimawandels vorbeugen ist selbstredend nur im Rahmen einer internationale Klimapolitik möglich;
– Früherkennung und Prävention in allen sicherheitsrelevanten Bereichen bedarf grösstenteils international eingerichteter Frühwarnsysteme;
– Massnahmen gegen von aussen gesteuerte Hass- und Desinformationskampagnen: Profitgierige Internetkonzerne mit Sitz in den USA, machtbesessene Libertäre wie Elon Musk (X, vormals Twitter) und Diktatoren wie Vladimir Putin lassen sich von einem Land wie die Schweiz nicht beeindrucken. Da braucht es schon ein Schwergewicht wie die EU, deren Regulierungen die Schweiz übernehmen sollte.
– Der Kampf gegen die wieder wachsende Armut in den Entwicklungsländern mit ihrem Migrationspotenzial erfordert mehr Mittel für die Entwicklungszusammenarbeit statt weniger wie vom Parlament beschlossen.
Das alles zeigt: Das Réduit ist nicht das richtige Vorbild für eine zeitgemässe Sicherheitspolitik. Viel geeigneter ist eine in allen relevanten Bereichen auf internationale Kooperationen ausgerichtete Aussenpolitik. Hier muss – wo nötig auch finanziell und personell – investiert werden, nicht bei der Armee. Martin Dahinden knüpft hier nahtlos an, wenn er zusammenfasst, was eine zukünftige schweizerische Sicherheitspolitik tun sollte, nämlich «möglichst früh und auch möglichst weit jenseits der Landesgrenzen auf Risiken einwirken». Alles andere als ein Armeegegner kommt auch er zum Schluss, dass es «falsch wäre, die militärische Landesverteidigung einseitig zum Ausgangspunkt für die Formulierung der zukünftigen Sicherheitspolitik zu wählen».
Kurz und Kräftig. Die wöchentliche Dosis Aussenpolitik von foraus, der SGA und Caritas. In der Ausgabe Nr. 466, November 2024, steht die Migrationsvereinbarung der EU mit Tunesien im Fokus. Zahlreiche Flüchtlinge sind unmenschlichen Bedingungen und Abschiebungen in Wüstengebiete ausgesetzt, was zu Spannungen auf der geopolitischen Ebene führt. Espresso Nr. 466 | 19.11.2024
Neue Beiträge von Joëlle Kuntz (La neutralité, le monument aux Suisses jamais morts) sowie von Martin Dahinden und Peter Hug (Sicherheitspolitik der Schweiz neu denken - aber wie?)
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