Die Auseinandersetzung um das Rahmenabkommen ist von einer starken Diskrepanz zwischen Recht und Politik geprägt. Aus rechtlicher Sicht verbessert das Abkommen die Stellung und Einflussmöglichkeiten der Schweiz in Europa. Die Politik und viele Medien sehen nur Nachteile und befürchten einen Souveränitätsverlust. Wie ist diese Diskrepanz zu erklären?
Institutionell bringt das Rahmenabkommen (InstA) in seinem Geltungsbereich die Mitsprache in der Rechtssetzung, regelmässige Kontakte auf den Ebenen von Regierung und Verwaltung, von Parlament und Gerichten und damit auch mehr Ehrlichkeit und Transparenz in der Übernahme von EU-Recht. Das Schiedsverfahren schützt die Schweiz vor unverhältnismässigen Sanktionen, sollte sie sich künftig für ein Opt-out in einem Regelungsbereich entscheiden. Die Zuständigkeit des EU-Gerichtshofes beschränkt sich auf rezipiertes EU-Recht und beschlägt die materiellen Grundbestimmungen der bilateralen Staatsverträge nicht. Die Stellung der Schweiz wird gesamthaft im europäischen Integrationsprozess gestärkt. Materiell bringt das Abkommen in den drei umstrittenen Bereichen Verbesserungen oder relegiert wichtige Fragen auf spätere Verhandlungen und Entwicklungen.
Rechtliche Besserstellungen und Absicherungen
Die völkerrechtlichen Rahmenbedingungen für den Lohnschutz werden gegenüber heute verbessert: Der Grundsatz «gleicher Lohn für gleiche Arbeit» wird auch im Entsenderecht der EU ausdrücklich anerkannt. Die Schweiz hat – über das EU-Recht hinaus – erfolgreich verhandelt und eine 4-tägige Voranmeldung und das Recht ausgehandelt, Kautionen gegen Säumige zu verhängen. Diese Garantien binden staatsvertraglich auch den Europäischen Gerichtshof. Neu kann die Schweiz von Amts- und Rechtshilfe und dem europäischen Binnenmarkt-Informationssystem IMI profitieren; sie kann ausländische Firmen neu auch an deren Sitz in den Mitgliedstaaten ins Recht fassen. Der heute unter dem Freizügigkeitsabkommen anfechtbare Lohnschutz wird neu auf eine solide Grundlage gestellt. Diese ermöglicht ein durchaus griffiges und ebenbürtiges Entsenderecht auf Bundesebene, das weiterhin von den Sozialpartnern administriert werden kann.
Das Abkommen verpflichtet rechtlich nicht zur umfassenden Übernahme der Sozialhilfe der Unionsbürgerschaft. Die einschlägige Richtlinie wird weder im Freizügigkeitsabkommen noch im Rahmenabkommen erwähnt. Der Wechsel vom Heimatstaatprinzip zum Wohnortprinzip für Bedürftige wird Gegenstand eines langen Prozesses sein, nicht anders als es unter den Kantonen der Fall war. Verpflichtungen können rechtlich nicht über den Geltungs- und Anwendungsbereich des Freizügigkeitsabkommens hinausgehen. Dieses unterstellt nicht-erwerbstätige Personen einer regelmässigen Erneuerung der Niederlassung, die an hinreichende Mittel für den Lebensunterhalt gebunden bleibt.
Das Rahmenabkommen beinhaltet schliesslich keine Veränderung im Bereich der kantonalen Subventionen. Diese Frage stellt sich ernsthaft erst bei einer künftigen Revision des Freihandelsabkommens von 1972; vorher unterliegen Streitigkeiten allein der einvernehmlichen Unterstellung unter das Schiedsgericht. Die Schweiz und ihre Kantone können hier nicht gegen ihren Willen eingeklagt werden.
Politische Meinungen ohne Rücksicht auf Rechtsrahmen
Die rechtliche Lage könnte kaum stärker mit der vorherrschenden politischen Einschätzung des Abkommens kontrastieren. Diese ist machtpolitisch, im Einzelnen ohne Rücksicht auf die Rechtslage geprägt. Trotz einer stärkeren Mitbestimmung wird ein unzumutbarer Angriff auf die nationale Souveränität durch die dynamische, aber nicht automatische Rechtsübernahme und das Vorabentscheidungsverfahren vor dem Europäischen Gerichtshof ins Feld geführt. Die Gewinne des Abkommens, vor allem auch für künftige Abkommen, werden ausgeblendet.
Die SVP lehnt das Abkommen kategorisch ab, ohne Rücksicht auf Verluste. Gewerkschaften, SPS und wohl auch die Grüne Partei beharren darauf, dass der Lohnschutz aus dem Geltungsbereich des Abkommens gestrichen wird und paradoxerweise im Alleingang weiterhin auf der unsicheren und anfechtbaren Grundlage des Freizügigkeitsabkommen beruhen soll. Für sie ist das vorliegende Abkommen nicht akzeptabel, ohne Rücksicht auf seine anderen Komponenten und Vorteile für die Beschäftigung. FDP und die Mitteparteien machen ihre Zustimmung von weiteren Klärungen in den drei genannten Bereichen abhängig. Allemal werden die genauen rechtlichen Gründe dazu aber weder kommuniziert noch deren Notwendigkeit rechtlich näher begründet.
Bezüglich der Sozialrechte will man eine Entscheidung auf Biegen und Brechen und erachtet die Sozialpflichtigkeit gegenüber Arbeitnehmern und Steuerzahlern, die in Schwierigkeiten kommen, im Grundsatz als unzumutbar. Die Kantone wehren sich gegen das Abkommen und fürchten ohne nähere Begründung um ihre Gestaltungsspielräume einer oft intransparenten Beihilfe- und Standortpolitik. Allein die Grünliberale Partei, Wirtschaftsverbände und die in der Plattform Schweiz Europa vereinten Organisationen der Zivilgesellschaft unterstützen das vorliegende Abkommen. Magistraten, Politiker vieler Couleurs und Journalisten behaupten immer wieder, dass das Abkommen vor dem Volk keine Chance habe, obgleich Umfragen mit Beständigkeit das Gegenteil ergeben haben. Eine grosse Mehrheit von Bürgern und Bürgerinnen sieht die Notwendigkeit des Abkommens für die Fortsetzung des bilateralen Weges ein. Vor allem haben Volk und Stände in epochalen Abstimmungen den bilateralen Weg deutlich bestätigt. Sie haben am 25. November 2018 die sog. Selbstbestimmungsinitiative und am 27. September 2020 die sog. Begrenzungs- oder Kündigungsinitiative massiv verworfen.
Gründe für die Diskrepanz
Über das politische Parteiengerangel hinaus lassen sich drei Gründe für diese ausgeprägte Diskrepanz zwischen rechtlichem Inhalt und politischer Einschätzung anfügen Das Abkommen wurde erstens über Jahre hinter verschlossenen Türen verhandelt, ohne gleichzeitig einen innenpolitischen Lernprozess zu führen. Eine negative Grundstimmung baute sich auf, lange bevor der Text vor über einem Jahr publiziert wurde. Das rächte sich bald. Die Debatte ist von früh gefällten Vorurteilen geprägt, auf die nur schwer ohne Gesichtsverlust zurückgekommen werden kann. Das Rahmenabkommen beschlägt zweitens und vor allem das tradierte Souveränitätsverständnis der Schweiz und macht einen ersten Schritt zu einer kooperativen Souveränität mit mehr Einfluss und Mitsprache in der EU, aber auch einer beschränkten Unterstellung unter ihre Gerichtsbarkeit. Das ist für unser Land völlig neu und fordert alle Parteien, von links bis rechts, in ihrem traditionell nationalstaatlichen Souveränitätsdenken. Und drittens bestehen schliesslich versteckte protektionistische Agenden, welche die Fundamentalopposition der SVP und der Sozialpartner geschickt ausnützen.
All dies führt zu Verzögerungen, welche ohne dauerhafte Aufdatierung des Abkommens über technische Handelshemmnisse (MRA) Betriebe und Arbeitsplätze vor allem im Bereich der Medizinaltechnik ernsthaft gefährden. Das gleiche gilt für die Forschungspolitik. Die Beteiligung am kommenden Forschungsprogramm der Union ist ungesichert. Morgen werden sich Schwierigkeiten in der Klimapolitik zeigen. Viele Fragen lassen sich hier national angehen. Viele verlangen aber eine internationale Lösung, will man Handelsumlenkungen vermeiden. Das gilt vor allem für den Emissionshandel, für Grenzabschöpfungen und Klimazölle gegen schmutzig produzierte Waren. Es gilt für eine stabile Stromversorgung und für die Bewirtschaftung der Pumpspeicherwerke in den Alpen, die ohne Stromabkommen kaum finanziert und ausgelastet werden können. Probleme werden sich rasch auch im Bereich der digitalen Wirtschaft zeigen. Wie will die Schweiz ohne Zusammenarbeit mit der EU Cyber-Kriminalität erfolgreich bekämpfen? Wie will sie Forschungszusammenarbeit und Netzwerkeffekte in der Software-Entwicklung nutzen, die heute in der EU bewusst angestrebt werden? Wie will sie die Datensicherheit und den Markzugang für ihre Dienstleistungen im Alleingang sicherstellen? Klimapolitik und die digitale Wirtschaft mit ihren engen und neuartigen Bezügen zur Sicherheitspolitik stehen zuoberst auf der Agenda der neuen EU-Kommission. Ihre geopolitischen Herausforderungen rufen verstärkt nach einer europäischen Souveränität (E. Macron).
Für Drittstaaten ohne vertragliche Anbindungen wird es eng werden. Ihnen bleibt dann in Europa nur der autonome Nachvollzug ohne Marktzugangsrechte und damit endgültig der Verlust der nationalen Souveränität und Selbstbestimmung in zentralen Regelungsbereichen.
Bei all dem liess sich der Bundesrat alle Zeit und delegierte staatsleitende Fragen an demokratisch nicht legitimierte Verbände der Sozialpartner. Auf die Argumente einer verfassungsrechtlichen Petition der zivilgesellschaftlichen Organisationen vom 31. Oktober 2019, mit der aus den vorgenannten Gründen eine rasche Unterschrift und Vorlage an das Parlament gefordert wird, ist er nicht näher eingegangen. Die grossen geopolitischen Veränderungen wie auch die Erfahrungen mit der Pandemie und einer erfolgreichen pragmatischen Zusammenarbeit mit der EU während dem Lock-down blieben unberücksichtigt. Die Regierung glaubte, mit ihrer zögerlichen Haltung einen besseren Stand gegen die Kündigungsinitiative der SVP zu haben. Überzeugend war das nicht. Man kann auch als Zaungast nicht gespalten und geteilt für die Idee der europäischen Integration einstehen.
Zeitenwende
Die Politik muss mit den europapolitischen Abstimmungen von 2018 und 2020 die Zeitenwende endlich zur Kenntnis nehmen. Es liegt an der Schweiz, jetzt diesen weiteren Schritt in Richtung Europa zu machen. Es liegt an Bundesrat und Parlament, die Europapolitik zu bestimmen und diese nicht länger demokratisch nicht legitimierten Verbänden und Korporatismus zu überlassen. Die Grundlagen liegen bereit. Das Abkommen ist aus rechtlicher Sicht weit besser als sein Ruf. Es wurde sorgfältig verhandelt, aber schlecht kommuniziert. Diesen Mangel gilt es durch die Unterzeichnung und die Ausarbeitung einer detaillierten Botschaft an das Parlament zu beheben. Sein rechtlicher Inhalt muss endlich im Detail in die Debatte einfliessen.
Noch offene Fragen lassen sich vorgängig durch einseitige oder beidseitige auslegende Erklärungen durchaus regeln. Und wo dies nicht abschliessend möglich ist, steht neu und erstmals ein verbindliches Streitbeilegungsverfahren zur Verfügung, das die Stellung der Schweiz im Machtgefüge stärkt. Die Grundlagen für eine Rückkehr zu einer vertrauensbildenden Sachpolitik in der schrittweisen Entwicklung der Europapolitik liegen mit dem Vertragsentwurf vom Jahresende 2018 aus rechtlicher Sicht vor. Der Souverän erwartet, 2021 über diesen Vertrag abstimmen zu können.
*Thomas Cottier ist emeritierter Professor für Europa- und Wirtschaftsvölkerrecht an der Universität Bern und Präsident der Vereinigung Die Schweiz in Europa. Der Artikel wurde leicht überarbeitet von der Webseite der Organisation übernommen.
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