Lesetipp

Plädoyer für den EU-Beitritt

Es würde der Schweiz gut anstehen, Mitverantwortung für die Zukunft Europas zu übernehmen statt einfach als eigenbrötlerischer Trittbrettfahrer von der europäischen Friedens- und Prosperitätsdividende zu profitieren, argumentiert der frühere EU-Korrespondent Martin Gollmer pointiert.

Martin Gollmer, Brüsseler Korrespondent des Tages-Anzeigers in den Schlüsseljahren 1989-1995, anschliessend Leiter des Euro Info Center Schweiz bei der OSEC, liefert eine klar strukturierte, differenzierte Analyse der Beziehungen der Schweiz zu ihrem weitaus wichtigsten Wirtschafts- und Kooperationspartner. Diese mündet in die Schlussfolgerung, die Schweiz sollte der Union beitreten und endlich den ihr angemessenen Platz in Europa einnehmen.

EU-Schwächen

Der Autor braucht sich nicht vorwerfen zu lassen, ein naiver Eiferer oder blinder Phantast zu sein. Er argumentiert stets sachlich und kenntnisreich. Er verschweigt weder die Schwächen der EU noch die Schwierigkeiten eines schweizerischen Beitritts. Er arbeitet andererseits die geopolitische Bedeutung und die Stärken der Union heraus, und er analysiert die Vorteile, welche die Schweiz aus einer Teilhabe am europäischen Projekt ziehen könnte.

«Die EU ist in schwacher Form», räumt Gollmer ein. Nüchtern bespricht er Rückschläge wie den Brexit, die Mühen der Union bei der Durchsetzung der Rechtsstaatlichkeit, die Krisen der Migrationspolitik, die wachsende Staatsverschuldung, die erst tastende Aussen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik, das nach wie vor bestehende Demokratiedefizit. Dem stellt er gegenüber, dass die EU zu 70 Jahren Frieden in Westeuropa beigetragen hat, die europäische Wertegemeinschaft in Zuge sukzessiver Erweiterungen vergrössert und einen dynamischen Binnenmarkt geschaffen hat, strukturschwache Regionen durch ihre Kohäsionspolitik fördert, die individuelle Reisefreiheit durch Schengen ermöglicht – und einiges mehr.

Demokratiepolitische Ungeheuerlichkeit

Die Schweiz ist mit der Union durch gemeinsame Werte und vielfältigste, über Handel weit hinausreichende Beziehungen verbunden. Aufgrund der bilateralen Abkommen oder autonom übernimmt die Schweiz laufend EU-Recht. Allerdings ohne bei dessen Erlass mitentscheiden zu können. Damit gibt sie Teile ihrer Souveränität aus der Hand. Zurückgewinnen könnte sie diese nur, wenn sie an den Entscheidungen, die sie mitbetreffen, gleichberechtigt mitwirken könnte. Die fehlende Mitbestimmung ist in Gollmers Worten nichts weniger als «eine demokratie- und staatspolitische Ungeheuerlichkeit». Das Fazit, das der Autor daraus zieht, ist eindeutig: «Die Schweiz sollte der EU beitreten».

Dazu müsste weder die Neutralität aufgegeben werden, noch würde die direkte Demokratie ausgehebelt, noch würde der Föderalismus abgeschafft. Gollmer unterschlägt aber keineswegs, dass ein EU-Beitritt gewichtige Veränderungen implizieren würde: so müsste der Bundesrat wohl, um auf europäischer Ebene effizient mitwirken zu können, vergrössert und das Bundespräsidium gestärkt werden. Ob die Schweiz vom Franken zum Euro umsteigen müsste, wäre Gegenstand von Verhandlungen. Anpassungen wären auch beim Steuersystem und in der Agrarpolitik unumgänglich. «Nicht einfach», urteilt der Autor, aber machbar und zum Teil ohnehin überfällig.

Genug vom Katzentisch

Entscheidend ist für den Autor Anderes: «Als EU-Mitglied könnte die Schweiz (…) gleichberechtigt mit anderen europäischen Staaten an der Gestaltung der Zukunft des Kontinents teilnehmen. Sie müsste sich nicht mehr mit einer Rolle am Katzentisch begnügen. Es würde der Schweiz gut anstehen, endlich Mitverantwortung für die Zukunft Europas zu übernehmen. Sie gälte als EU-Mitglied nicht mehr als eigenbrötlerischer Trittbrettfahrer, der von der von der Europäischen Union erarbeiteten Friedens- und Prosperitätsdividende profitiert.»

Gollmer argumentiert konsequent mit schweizerischen Eigeninteressen. Ebenso gut könnte man die sich verschlechternden Rahmenbedingungen für den Bilateralismus ins Feld führen, etwa die schwindende Bereitschaft der EU-Kommission und einer wachsenden Zahl von Mitgliedstaaten, auf Schweizer Sonderwünsche einzugehen. Umgekehrt stellt sich die Frage, wie offen man auf EU-Seite (nach den Erfahrungen mit dem UK) einem schweizerischen Beitrittsbegehren begegnen würde.

Das gut lesbare Buch fasst präzis und didaktisch geschickt das Grundwissen zusammen, über das verfügen sollte, wer in der Europafrage mitreden will. Zu wissen, was Gegenstand aktueller Sondierungsgespräche ist und wie Schweizers liebste Stolpersteine heissen, reicht nicht mehr aus. Man muss sich den europäischen Kontext vergegenwärtigen, und man muss die Alternativen zum heutigen Sonderweg kennen und gegeneinander abwägen. Und dazu gehört naturgemäss die Option Beitritt, also der europapolitische Normfall, der im schweizerischen Europadiskurs mit viel Fleiss tabuisiert wird. Gollmers Tabubruch ist erfrischend und verdienstvoll!

Martin Gollmer, Plädoyer für die EU, Warum es sie braucht und die Schweiz ihr beitreten sollte, NZZ Libro, 2022, 190 Seiten, 34.00 CHF.

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