Ein Blick in die Schweizer Geschichte der Migration relativiert aktuelle Aufregungen und öffnet die Augen für die Wirkungszusammenhänge und die Chancen der Mobilität.
«Schweizer Geschichte ist Migrationsgeschichte», heisst es einleitend zu der materialreichen Darstellung, die der Berner Ordinarius für Schweizergeschichte André Holenstein zusammen mit den Migrationshistorikern Patrick Kury und Kristina Schulz vorlegt. Die Autoren spannen einen weiten Bogen: von der Einwanderung in den schweizerischen Raum nach der letzten Eiszeit über Binnenwanderungen und Wellen der Auswanderung bis zur massenhaften Anwerbung von Arbeitskräften im Ausland, ohne welche es die industrialisierte, wohlhabende Schweiz nicht gäbe, schliesslich hin zur neuerdings umkämpften europäischen Personenfreizügigkeit. Die Wanderungen im römischen Vielvölkerreich, die ihre Spuren in Orts-, Gewässer- und Gebirgsnamen hinterlassen haben, werden ebenso behandelt wie die Söldnermigration, welche lokal zeitweilig gegen einen Drittel der männlichen Bevölkerung erfasste, und die zivile Arbeitsmigration der Handwerker, Hausierer, Kaufleute, Baumeister, Maurer und Stuckateure, Künstler, Wissenschaftler, Erzieher/innen und Gouvernanten, Hirten und Käser, und nicht zuletzt der Bündner Patissiers. Der Migrationssog der mittelalterlichen Städte und die Siedlungswanderungen der Walser kommen ebenso zur Sprache wie die immer neuen Wellen von Kriegsflüchtlingen, politisch Verfolgten und «displaced persons». Nicht fehlen darf der Exodus im 19. Jahrhundert nach Übersee und – zahlenmässig noch bedeutender – nach europäischen Destinationen.
Land von Migrantinnen und Migranten
Wer sich auf diese flüssig geschriebene, spannende Schweizergeschichte unter dem ungewohnten Blickwinkel der Bevölkerungsbewegungen einlässt, wird um die Einsicht bereichert, dass Migration das Land, wie wir es heute kennen, tiefer geprägt hat als alle Schwüre und Schlachten.
Migration ist ein komplexer, konfliktträchtiger, individuell wie kollektiv potenziell traumatisierender Prozess. Er betrifft sowohl Migrierende als auch Sesshafte. Ursachen und Wirkungen liegen ebenso im Herkunfts- wie im Zielgebiet. Mobilität, sobald grenzüberschreitend, ist unweigerlich auch eine Dimension der Aussenpolitik – und eine immer bedeutendere.
Was löst Wanderungen aus? Was geschieht mit Migranten unterwegs und am Zielort? Wie erleben sesshaft Gebliebene den Wegzug? Wie geht die autochthone Bevölkerung mit dem Zuzug Fremder um? Was bewirken Einwanderer im Zielland? Welche Beziehungen zur ursprünglichen Heimat bewahren Migrantinnen und Migranten? Welche Wirkungen gehen von migrationsbedingen Netzwerken aus? Schliesslich: welches ist die langfristige Bilanz der Migration – im Ursprungs- wie im Zielgebiet? Diesen und zahlreichen weiteren Fragen spüren die Autoren anhand von Erlebnisberichten, Namenslisten, Statistiken, Verwaltungsakten und Bilddokumenten aufgrund eigener Forschung und einer reichen Literatur nach und lassen so ein differenziertes, buntes Bild der Schweizer Migrationsgeschichte von den Anfängen bis zur Gegenwart entstehen.
Erzählt wird gutenteils die vermeintlich bekannte Schweizergeschichte – freilich aus einer neuen, erfrischenden und oft verblüffenden Perspektive. Andererseits stösst man immer wieder auf kaum Bekanntes, ja Überraschendes. Im öffentlichen Bewusstsein wenig präsent ist etwa der steinige Weg zur innereidgenössischen Personenfreizügigkeit. Das Ancien Régime kannte eine solche nicht. Es bedurfte der Episode des Einheitsstaates unter französischer Fuchtel, um der Niederlassungs- und Gewerbefreiheit für Schweizerbürger auf dem gesamten Gebiet der Helvetischen Republik zum Durchbruch zu verhelfen. Nach deren Scheitern 1803 wurden die neuen Freiheiten wieder rückgängig gemacht. Der Bundesvertrag von 1815 kennt keine Dispositionen zur internen Mobilität. Lediglich zwölf Kantone räumten sich ab 1819 mittels Konkordat gegenseitig Niederlassungsfreiheiten ein. Erst die Bundesverfassung von 1848 promulgierte wieder die Niederlassungsfreiheit auf dem gesamten Bundesgebiet, wenn auch beschränkt auf Männer und erst noch auf solche christlichen Glaubens. Die Gleichstellung jüdischer Mitbürger gelang – übrigens nur auf äusseren Druck – erst 1866, und die Gewerbefreiheit folgte erst im Zuge der Verfassungsrevision von 1874. Bis sich die Personenfreizügigkeit auch im Alltag als Selbstverständlichkeit durchgesetzt hatte, dauerte es weitere Jahrzehnte…
Erhellend ist es auch, der kuriosen Karriere des Begriffs «Überfremdung» nachzugehen. Der Ausdruck taucht zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf. Kurz vor dem Ersten Weltkrieg näherte sich der Ausländeranteil der 15%-Marke. Nach Kriegsende fand der Begriff Eingang in behördliche Dokumente. Dabei war der Anteil der ausländischen Wohnbevölkerung inzwischen kriegsbedingt auf 10% gesunken. Als Gegenmassnahme gegen «Überfremdung» wurde bemerkenswerterweise zunächst die Erleichterung der Einbürgerung empfohlen, denn es sei eine Bedrohung für die Demokratie, wenn ein immer grösserer Teil der Bevölkerung von der politischen Partizipation ausgeschlossen sei. Eine fatale Rolle spielte der Topos «Überfremdung» bei der Abwehr jüdischer Flüchtlinge zwischen 1933 und 1945. Zu einer zweiten Karriere setzte der Begriff in den 1960er-Jahren im Kontext des wirtschaftlichen Aufschwungs und der Rekrutierung zahlreicher Arbeitskräfte im Ausland an. Mit dem Unterschied, dass die neuen «Überfremdungs»-Kritiker nicht mehr Integration, Einbürgerung und politische Mitsprache anstrebten, sondern Erhöhung der Zutritts- und Partizipationshürden, Plafonierung, Reduktion, Kontingentierung. Auch wenn der Ausdruck heute seltener verwendet wird, hat sich die «Überfremdung» über die Jahrzehnte zu einem «Frame» verfestigt, das beliebig abgerufen werden kann und der rationalen Analyse längst entglitten ist.
Multikulturalität seit langem
Der Blick auf mehrere Jahrhunderte Migrationsgeschichte mache deutlich, resümieren die Autoren, dass Multikulturalität im Raum der Schweiz Realität war, lange bevor das Stichwort Gegner und Befürworter auf den Plan brachte. «Die über hundert Jahre alte Rede über die Schwierigkeiten der Integration und die Angst vor ‚Überfremdung‘ sind zwar als individuell empfundene Zumutungen nachvollziehbar, vor dem Hintergrund der kollektiven Erfahrungen auf der Ebene der ‚longue durée‘ aber unverhältnismässig.» Und mit Historiker-Augenmass schliessen sie: «Eine Nation, die derart auf der Integration verschiedener Kulturgemeinschaften basiert, dass sie Mehrsprachigkeit und Kulturkontakt zu ihrer Raison d’Etre und zu einem konstitutiven Element ihrer Identitätsvorstellung erklärt hat, sollte den Herausforderungen der Migrationsgesellschaft relativ selbstbewusst und gelassen entgegensehen.»
Der material- und gedankenreiche Band zeigt eindrücklich: Migration ist ein Zentralthema der Geschichte des schweizerischen Raumes. Migration ist nicht die Ausnahme, sondern die Norm und Konstante. Migration ist eine gemeinhin unterschätzte und zu wenig thematisierte Dimension der Schweizergeschichte – und der schweizerischen Aussenbeziehungen. Das Buch von Holenstein/Kury/Schulz füllt eine weit klaffende Lücke!
André Holenstein/Patrick Kury/Kristina Schulz, Schweizer Migrationsgeschichte, Von den Anfängen bis zur Gegenwart, Verlag Hier und Jetzt, Baden 2018. 384 Seiten, illustriert, CHF 39.00.
Kurz und Kräftig. Die wöchentliche Dosis Aussenpolitik von foraus, der SGA und Caritas. In der Ausgabe Nr. 466, November 2024, steht die Migrationsvereinbarung der EU mit Tunesien im Fokus. Zahlreiche Flüchtlinge sind unmenschlichen Bedingungen und Abschiebungen in Wüstengebiete ausgesetzt, was zu Spannungen auf der geopolitischen Ebene führt. Espresso Nr. 466 | 19.11.2024
Neue Beiträge von Joëlle Kuntz (La neutralité, le monument aux Suisses jamais morts) sowie von Martin Dahinden und Peter Hug (Sicherheitspolitik der Schweiz neu denken - aber wie?)
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Das Schweizer Mandat im UNO-Sicherheitsrat (2023 und 2024) fällt in turbulente Zeiten, der Rat hat Schwierigkeiten, in den grossen Fragen Entscheide zu fällen. Jeden Samstag fassen wir das Ratsgeschehen und die Haltung der Schweiz zusammen.
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