Der frühere Schweizer Botschafter Georges Martin blickt in einem persönlich geprägten Buch auf seinen Werdegang und sein vielfältiges Berufsleben zurück. Er illustriert besonders, welcher Platz der Eigeninitiative, wenn nicht dem Wagemut in der Diplomatentätigkeit zukommen kann. Politisch verficht er vehement eine traditionelle, dem Frieden dienstbare Neutralität.
Der 1952 geborene Walliser Georges Martin stand von 1980 bis 2017 im Dienst des Departements für auswärtige Angelegenheiten (EDA), versah Funktionen in Bern, Pretoria, Tel Aviv, Ottawa und Paris, war Botschafter in Jakarta und Nairobi und zuletzt Stellvertretender Staatssekretär. Sein Buch, schreibt er, sei «ni des mémoires, ni une autobiographie, ni un journal intime, ni un essai, ni un roman, mais peut-être un peu de tout cela ». Man liest es im Vertrauen, die wesentlichen Fakten seien trotz «roman» und persönlicher Sicht unbeschadet geblieben. Martin erzählt jedenfalls gerne und gut, Knappheit ist dabei nicht sein Ziel.
Eine Dosis Keckheit
Martins Leidenschaft für den Diplomatenberuf («Il n’y a guère de profession plus humaine») erstaunt vorerst, da er seinen Drang nach Freiheit betont, während die Vertretung der offiziellen Schweiz im Ausland, von aussen gesehen, Sinn für Formelles und Unterordnung unter die Regierungspolitik verlangt. Auch wenn er seine «revolutionäre» Phase als Achtundsechziger nicht ohne Ironie beschreibt und der Buchtitel brav «Une vie au service de mon pays» lautet, ist ihm etwas Aufmüpfigkeit geblieben – und dies nicht zum Schaden seines amtlichen Wirkens. Als zum Beispiel nach den Wahlen in Kenia Ende 2007 schwere Unruhen ausgebrochen waren, drohte Martin in einem Interview an, dass die Politiker, die die laufenden Vermittlungsbemühungen allenfalls scheitern liessen, kein Visum für die Schweiz mehr erhalten würden. Das grüne oder vielmehr rote Licht von Bern hatte der Botschafter, das Wochenende ausnützend, nicht abgewartet. Der teilweise erfolgreiche Herausforderer des bisherigen kenyanischen Präsidenten dankte ihm für die Aktion.
Von Israel aus traf sich Martin in Gaza für stundenlange Gespräche mit einem Verantwortlichen der Hamas. In Südafrika lud er, damals noch verbotenerweise, Schwarze und Weisse zusammen zu Abenden bei sich zu Hause ein. Mit Rückhalt in der EDA-Zentrale gratulierte er als Stellvertreter des Botschafters dem inhaftierten Nelson Mandela zum 70. Geburtstag. Dieser erinnerte sich später daran und sagte Martin, er verdanke sein Überleben dem IKRK und somit der Schweiz – ohne deren Nichtbeteiligung an Sanktionen zu erwähnen.
Blamabler Fall von Menschenrechtspolitik
Ebenfalls etwas Kühnheit war manchmal, neben Geschick und Geduld, bei den zwei Sondermissionen gefragt, von denen der Autor ausführlich berichtet. 2014/15 ging es darum, die sichere Ausreise eines oppositionellen Journalisten aus Aserbaidschan zu erwirken, der in der Schweizer Botschaft Schutz vor Verfolgung gesucht hatte. Erst im Lauf der sich über Monate erstreckenden Verhandlungen, wozu auch ein Gipfelgespräch am WEF in Davos gehörte, erfuhr Martin zufällig, dass der gefährdete Mann auf Initiative einer NGO in Genf und auf einen Wink aus Bern gegen den Willen des Botschafters in Baku in das «temporäre Asyl» gelotst worden war. Er hätte stattdessen, findet Martin, leicht über die nahe Grenze fliehen können. Nun aber bedurfte es unrühmlicher Konzessionen: Die Schweiz bezahlte offenbar eine hohe Geldstrafe für den Journalisten, der wegen Steuerdelikten angeklagt war, sie versprach unter anderem Zurückhaltung mit Kritik an der Menschenrechtslage, und Didier Burkhalter nahm als einziger westlicher Minister an der Eröffnung der Europäischen Spiele in Baku teil, um dann mit dem unbequemen Botschaftsgast heimfliegen zu können. – Verständlich, dass Martin wiederholt mehr Probleme in Bern als an der «Front» sieht.
Pazifistische Sicht der Neutralität
Der zweite Spezialauftrag war es, 2016/17 mit Iran und Saudi-Arabien, die im Streit lagen, die gegenseitige konsularische Vertretung durch die Schweiz auszuhandeln. Das Mandat war für Bern in einem derartigen Kontext neuartig und für Riad etwas bisher Unbekanntes. Martin bezeichnet die Guten Dienste der Schweiz als ersten Schritt zur Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen durch die beiden Mächte 2023. Er verteidigt dieses Potential eines neutralen Staats generell gegen die Geringschätzung durch jene, denen es nur darum gehe, dass die Schweiz stets als Wölflein mit den westlichen Wölfen heule.
In mehreren Zwischenbetrachtungen – eine umfassende aussenpolitische Konzeption legt er nicht vor – verficht Martin die Neutralität als erklärter Pazifist. Den Krieg «in» der Ukraine (nicht: gegen sie) hält er für die quasi unvermeidliche Folge amerikanischen Strebens nach Hegemonie über Russland; er spricht von «frénésie guerrière» und scheint die – ohnehin wirtschaftlich motivierte – Beteiligung der Schweiz an Sanktionen gegen Moskau zu bedauern. Besonders merkwürdig, dass seine Kritik an den Nato-Erweiterungen dem Sicherheits- und Freiheitsbedürfnis der osteuropäischen Länder keine Beachtung schenkt; ebenso, dass dem engagierten Autor kaum ein Wort über die Politik Putins nötig zu sein scheint.
In einer Galerie von Porträts der Aussenminister und der Aussenministerin von Pierre Aubert bis Ignazio Cassis wird der Letztgenannte (den Martin nicht mehr als Chef erlebte) als wahrscheinlich «le plus inconstant et illisible» seit je qualifiziert, während die grösste Bewunderung René Felber (1988-1993) gilt, dessen diplomatischer Berater der Autor war. Dieser Teil des Buchs ist schlicht ein Lesegenuss. Hier wie im ganzen oft pointierten Text spürt man zwar gelegentlich bittere Kritik, vor allem aber Georges Martins lächelnde Menschenfreundlichkeit.
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Georges Martin: Une vie au service de mon pays. Plaidoyer pour un Suisse neutre, active et respectée. Slatkine, Genève 2024. 384 S., Fr. 35.-.
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