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Stolperstein Migration

Der Bundesrat will mit der EU die Möglichkeit aushandeln, die Personenfreizügigkeit in bestimmten Situationen einzuschränken. Das Ziel dürfte sich nicht leicht und sicher nicht umsonst erreichen lassen. Die Probleme der Migrationspolitik würden kaum gelöst.

Manchmal regen sich Zweifel, ob der Bundesrat bei der Festigung und Weiterentwicklung der Beziehungen mit der EU wirklich zügig vorankommen will. In das Verhandlungsmandat hat er das Ziel aufgenommen, «die Mechanismen des FZA [des Freizügigkeitsabkommens] zur Bewältigung unerwarteter Auswirkungen zu konkretisieren». Die damit wohl gemeinte erleichterte Anwendbarkeit der bestehenden Schutzklausel war im Common Understanding – Ergebnis der Sondierungsgespräche und Plattform für die Verhandlungen mit der EU – kein Thema gewesen, hatte aber als Idee kursiert, und die Aussenpolitischen Kommission des Nationalrats hatte sie dem Bundesrat als Teil des Mandates nahegelegt.

Starke Wirtschaft als «Problem»?

Das geltende Abkommen über die Personenfreizügigkeit sieht vor (Art. 14, Abs.2), dass «bei schwerwiegenden wirtschaftlichen oder sozialen Problemen» der Gemischte Ausschuss (Vertreter der Union und der Schweiz) befristet «geeignete Abhilfemassnahmen» beschliessen kann. Mit den «Problemen» sind allerdings in erster Linie eine hohe Arbeitslosigkeit und andere Krisenerscheinungen gemeint, nicht eine starke Zuwanderung in einen sehr aufnahmefähigen Arbeitsmarkt wie den der Schweiz. Deren politisches Problem sind auch weniger konjunkturell bedingte Spitzen der Immigrationsbewegung, sondern deren anhaltend hohes Niveau. Dieses liesse sich mit vorübergehenden Massnahmen nicht senken. Für eine Anwendung als Steuerungsinstrument bietet die jetzige Vertragsbestimmung also wenig Spielraum.

Erfahrungen vor acht Jahren 

Nach Annahme der Masseneinwanderungsinitiative 2014 hatte der Bundesrat konsequenterweise eine Änderung («Anpassung») des FZA angestrebt, um gesetzliche Höchstzahlen für die Zuwanderung aus der EU vertragskonform einführen zu können. Lange Konsultationen von Migrations-Staatssekretär Mario Gattiker mit einem engen Mitarbeiter des EU-Kommissions-Präsidenten bestätigten aber, dass Brüssel am Grundsatz der Personenfreizügigkeit als Teil des Binnenmarkts nicht rütteln lässt. (Eine Ausnahme wurde nur Liechtenstein im EWR zugestanden, ebenso den Mikrostaaten San Marino und Andorra in den Assoziationsabkommen, die 2024 im Ratifikationsverfahren sind.)

Bei den Konsultationen 2015/16 stand faktisch also lediglich die Interpretation der geltenden Schutzklausel im Vordergrund. So soll über eine Auslegung des Begriffs «Probleme» diskutiert worden sein, die zusammen mit Faktoren wie hoher Arbeitslosigkeit auch das Ausmass der Zuwanderung berücksichtigt hätte. Und man hätte die Bedingungen für befristete restriktive Massnahmen so genau vereinbaren können, dass im Anwendungsfall die Zustimmung der EU im Gemischten Ausschuss praktisch sicher gewesen wäre. Nach dem britischen Volksentscheid zum Austritt aus der EU, der eine Neuregelung der Beziehungen nötig machte, verhärtete sich jedoch Brüssels Position. Das Schweizer Parlament hielt dann seinerseits an der Personenfreizügigkeit mit der EU fest und wurde 2020 von Volk und Ständen durch Ablehnung der Begrenzungsinitiative gestützt.

Der Druck geweckter Erwartungen

In den gegenwärtigen Verhandlungen dürfte es wohl ebenso nur um eine Konkretisierung im Rahmen der geltenden Vertragsbestimmung gehen. Ob die EU nach dem Brexit überhaupt Flexibilität zeigt, weiss man nicht. Vor der Sommerpause konstatierte der Bundesrat, die Positionen stimmten in diesem Punkt «noch zu wenig» überein. Sicher ist, dass Brüssel auf die nachträgliche Forderung der Schweiz mit Gegenforderungen reagiert. Laut einem NZZ-Bericht hat sie das Thema des gleichberechtigten Zugangs zu den Hochschulen aufgebracht – ein Postulat, das nicht ohne Brisanz ist. Der Bundesrat kann indes nicht ohne Weiteres zurück, weil er innenpolitisch Erwartungen geweckt hat und das Unterfangen bei einem Nachgeben kontraproduktiv würde.

Eine Alternative

Sachlich wäre ein Misserfolg zu verschmerzen, da ohnehin wenig zu gewinnen wäre. Wenn das zuwanderungsbedingte Bevölkerungswachstum nachhaltig gedämpft werden soll, wäre letztlich bei den Ursachen anzusetzen, das heisst bei der Nachfrage nach Arbeitskräften und dem Angebot im Inland. Man müsste etwa die «Standortförderung», die für zuziehende Firmen und Fiskalmigranten «attraktive» Ausgestaltung der Steuern oder die Massnahmen für den Tourismus (einen Bereich mit besonders hohem Ausländeranteil) überdenken. Man sollte eher über eine Erhöhung des Rentenalters reden als die Renten erhöhen. Menschen, die nicht gleich ganz ins Anforderungsprofil passen, etwa Flüchtlingen, wäre die Erwerbstätigkeit zu erleichtern. Arbeitgeber, öffentliche wie private, könnten mehr die interne Personalentwicklung pflegen und bei der Rekrutierung Externer die Vertrautheit mit dem Umfeld stärker gewichten. Sollte die Schweiz gar allgemein weniger über ihre Verhältnisse leben? Nur einsehen, dass man selten das Weggli und den Fünfer plus Teuerungszulage zugleich haben kann.

 

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