Kolumne

Macht EZA Sinn? Das Beispiel Bolivien

Fundamentalkritik an der Entwicklungszusammenarbeit (EZA) ist wieder einmal in Mode. In den Medien und auch im Parlament. Dieses werkelt an massivem Abbau der entsprechenden Rahmenkredite. In diesem Klima kann es erfrischend sein, wider den Stachel zu löcken. Am Beispiel Bolivien.

Bolivien hat alle Tiefen der Entwicklung und einige Höhen (für einige wenige Privilegierte) erlebt. Heute ist es ein Vorzeigefall, wie die Mehrheit der Bevölkerung zum Träger der Entwicklung wird.

Ich habe mit meiner Familie zehn Jahre (1975-80/ 1985-89) in Bolivien als «Entwicklungshelfer» gelebt und gearbeitet. Zwanzig Jahre danach habe ich das Land wieder besucht und mich fragen können, was an EZA nachhaltig war, welches die Treiber der Entwicklung waren und welches die fundamentalen Entwicklungs-Hemmer sind.

Bolivien wurde in der Kolonialzeit und danach als «Bettler auf silbernem Thron» genannt. Der Cerro Rico von Potosi lieferte Spanien über Jahrhunderte so viel Silber, dass es in Europa und darüber hinaus seine Vorherrschaft finanzieren konnte. Die Söhne der Aymara-Bauern wurden zwangsrekrutiert, in die Silberminen verschleppt, wo sie nach wenigen Jahren grausamer Sklavenarbeit unter Tags verendeten.

Kam dazu eine kaum zu übertreffende politische Instabilität. Ab 1964 erlebte das Land in 18 Jahren 18 Präsidenten oder Putsch-Regierungen.

1980 übernahm eine Offiziers-Clique die «Regierung» und missbrauchte die Staatsmacht, um ihre führende Rolle im Kokain-Geschäft auszubauen. In knapp zwei Jahren organisierte sie einen wirtschaftlichen, sozialen und politisch-institutionellen Höllenritt. Er endete mit einer Hyperinflation von 25.000%. Bolivien schien definitiv ein hoffnungsloser Unterentwicklungsfall, ein «failed state».

Aufbruch nach tiefer Krise
Dann der radikale Wandel: 1985 wurde das Land zum Vorzeigefall für radikale Strukturanpassung. Tausende entlassene Minenarbeiter marschierten mit Dynamit in den Hosentaschen in Richtung Hauptstadt La Paz. Chaos und Gewalt drohten, rasches Handeln war dringlich. Ein geniales Entwicklungsprojekt wurde zur Brücke zwischen Krise und wirtschaftlicher, sozialer und politischer Stabilität: der FSE/FONDO SOCIAL DE EMERGENCIA (Sozialfond für Notlage). Bis zur Hälfte seiner Laufzeit von nur drei Jahren waren gegen 1000 Projekte in Ausführung, 290‘000 Monate bezahlte Arbeitsstellen geschaffen. Drei Ziele waren massgebend: Sofortige Arbeitsbeschaffung, Einkommen für Arme, Befriedigung der Grundbedürfnisse (u.a. Gesundheit, Erziehung, Behausung, Trinkwasser) für besonders Betroffene.

Die folgenden Faktoren machten den Erfolg dieses Entwicklungs-Gross-Projektes möglich:

Und die Rolle der EZA? Ein drei-stelliger US$-Millionen Kredit wurde von der Weltbank mit (einmaliger) «standing ovation» bewilligt. Die Schweiz beteiligte sich als erstes Geberland mit 10 Mio. US$. Externe Finanzierung war ein unabdingbarer Faktor.

Noch wichtiger waren unzählige Organisationen oder Personen im ganzen Land, die Projekte formulieren, ausführen und kontrollieren konnten. Auch einige Schweizerprojekte, die nach dem Unterbruch durch den Kokain-Putsch wieder aufgegleist wurden, waren dabei. Eines wurde gar ein Vorzeigebeispiel im wichtigsten Sektor «Infraestructura Económica»: Aufforstung und Wildbachverbauung. Die Minenarbeiter waren besonders begabt, im Departement Cochabamba Steinkörbe an den Steilhängen einzubauen.

Bolivien erlebt bis heute eine Phase der politischen Stabilität, des wirtschaftlichen Wachstums. Viele Faktoren haben das bewirkt. Der FSE war bloss ein Auslöser von Entwicklungsschüben in einer extremen Notlage.

Dezentrale Fiskalpolitik als Schlüsselfaktor
Als ich mit meiner Frau 2007 nach Bolivien zurückkehrte, regierte der Aymara und Coca-Bauer Evo Morales das Land. Er ist bis heute an der Macht und schafft Wirtschaftswachstum, soziale und politische Stabilität. Unser Haupteindruck auf unserer Reise: Überall draussen im Lande, in abgelegenen Aymara-Dörfern des Hochlandes, in tropischen Neusiedlungsgegenden und auch in den Städten war ein Entwicklungsschub offensichtlich: Öffentliche Plätze, die jahrzehntelang vergammelt waren, wurden nun bepflanzt und gepflegt. Schulhäuser, Spitäler, Strassen, Wasserversorgung und Elektrizität waren lokal oft gut unterhalten und für die meisten zugänglich. Ein Schlüsselfaktor für diese Entwicklung? Dezentralisierte Fiskal-Politik; Öffentliches Geld wird verteilt: Weg von der Zentral-Bürokratie, hinaus in die Gemeinden und Departemente. Aymaras, Quechuas und Mestizos draussen im Land, die noch bis zur Agrarreform anfangs der 50er Jahre bis zu 70% Analphabeten waren, lernen nun öffentliche Mittel vernünftig auszugeben und zu kontrollieren.

Die Schweiz hatte über Jahrzehnte der EZA mit Bolivien als Leitmotiv: Dezentralisierung und Entwicklung muss von unten kommen. Damit hat sie zu den Erfolgen beitragen können.

Und die Zukunft? Für Bolivien schlägt die Stunde des Lithiums: Der Salar de Uyuni ist der grösste Salzsee der Welt, das trendige Leichtmetall gehört im weltweiten Vergleich zu den grössten Vorkommen Der rasch wachsende Elektroauto-Markt und die weltweit verbreiteten Handys und Tablets brauchen den Rohstoff. Nachfrage auf dem Weltmarkt ist gross, der Preis hoch. Evo Morales hat Lithium von Beginn seiner Regierung an als nationale Priorität erklärt und sich standhaft geweigert, eine weitere «Kolonial-Silber-Erfahrung» zuzulassen. Viele Hindernisse sind zu überwinden. Aber es könnte sein, dass Bolivien nun ein Beispiel wird, wie Rohstoffe zum Entwicklungssegen werden.

Das Beispiel Bolivien zeigt, dass die EZA wesentliche Entwicklungsimpulse auslösen und unterstützen kann. Sie wirkt aber subsidiär. Entscheidend sind letztlich die Regierungsführung in einem Land und der Wille, die breite und insbesondere ländliche Bevölkerung aktiv in die Entwicklung einzubeziehen.

#Finanzen #Nachhaltige Entwicklung

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