In ihren Beziehungen zur EU gibt sich die offizielle Schweiz im Moment grossen Illusionen hin. Sie will nicht zur Kenntnis nehmen, dass die Welt sich seit Abschluss der bilateralen Abkommen 2002 und 2004 weitergedreht hat und wir gegenüber ‘Brüssel’ weder über Zeit für lange Verhandlungen noch über entscheidende Unterstützung einzelner Mitgliedsländer verfügen.
Geopolitisch sieht die Welt heute anders aus als vor 20 Jahren. China ist daran, im 21. und asiatischen Jahrhundert sich als kontinentale Supermacht zu etablieren und macht den USA zunehmend auch deren dominierende Weltmachtstellung streitig. Dies nicht nur wirtschaftlich und zunehmend militärisch, sondern auch weltanschaulich. Das chinesische Modell autoritären Kapitalismus’ wird in Entwicklungsländern aggressiv und mit viel Geld als dem demokratischen Kapitalismus überlegen vermarktet. Europa, grössen- und bevölkerungsmässig ein Anhängsel an den eurasiatischen Riesenkontinent, muss sich gleich an zwei Fronten bewähren. Einmal, um im epochalen Zwist USA vs. China nicht zerrieben zu werden und zweitens seine gemeinsamen Mittel rasch auszubauen angesichts sowohl der direkten Bedrohung durch ein revanchistisches Russland an seiner Ostgrenze wie auch der seit Trump sichtbar gewordenen Gefahr, dass die USA aus der Familie der westlichen Werte-Demokratien ausscheren könnte.
Da bleibt wenig Zeit, um sich mit aus gesamteuropäischer Sicht drittrangigen Problemen wie der technischen Ausgestaltung der Beziehungen zu einem europäischen Kernland wie der Schweiz – mit noch weniger Möglichkeit sich wie das Global Britain anderswo hin zu orientieren – zu beschäftigen. Offizielle und inoffizielle Signale aus der EU sind eindeutig. Nach dem gewaltigen Vertrauensverlust durch den einseitigen Abbruch der Verhandlungen über ein Abkommen durch die Schweiz im vergangenen Mai, welches sie zudem dereinst selbst vorgeschlagen hat, will Brüssel jetzt wissen, was Helvetien eigentlich will. Entweder die umfassende Weiterführung der bilateralen Zusammenarbeit unter einem soliden Dach, welches Gewähr für rasche und unkomplizierte Anpassung an die Weiterentwicklung der fortschreitenden Unionisierung Europas erlaubt oder dann endgültige Einreihung als europäischer Drittstaat zusammen mit Ländern aus dem Ostbalkan und der Türkei.
Neue rote Linien sind unklug
Der höchste Vertreter der Schweiz, Bundespräsident Cassis hat kürzlich im Albisgüetli eine rote Linie gezogen mit der Erklärung, es werde kein Rahmenabkommen 2.0 geben. Dies war unklug, denn genau das wird nötig sein, um die Verhandlungen wieder in Gang zu bringen. Wie man es auch immer nennen mag, ein einheitliches Dach über die Einzelabkommen, respektive deren Erneuerung und laufende Anpassung ist unumgänglich. Unumgänglich weil es um den einzigen und untrennbaren europäischen Binnenmarkt für Güter geht, wo die Schweiz rund zwei Drittel der Gesamtmenge bezieht und ausführt, für Dienstleistungen und Kapital, also auch den für die Schweiz so wichtigen Finanzplatz, und schliesslich für Personen – wo eine ausgewiesen grosse Mehrheit der Schweizerinnen und Schweizer weiterhin Freizügigkeit will.
Ein einheitliches Dach bedeutet konkret gemeinsame Streitbeilegung, Finanzierungen und auch gemeinsame Sozialpolitik, wobei hier offensichtlichem Missbrauch mit sogenannten. Schutzklauseln begegnet werden kann, wie dies auch innerhalb der EU gebräuchlich ist.
Die vielleicht grösste Illusion besteht in der vagen Hoffnung, dass die Nachbarländer der Schweiz, angesichts der mannigfaltigen Verflechtungen über unsere Grenzen hinweg, ‘es in Brüssel für Bern schon richten würden’. Das ist nicht der Fall. Einem Branchenverband in Deutschland, der sich für eine Weiterführung von lizenzfreiem Zugang schweizerischer Produkte einsetzte, wurde klar – und ohne gegenteiliges Votum aus Berlin – bedeutet, dass für die Handelspolitik Brüssel zuständig ist. Es hätte sich ohnehin nur um eine Erleichterung für in der Vergangenheit ausgestellte Konformitätsbescheinigungen gehandelt. Für den lizenzfreien Zugang neuer Produkte ist ein neuer Vertrag über die gegenseitige Anerkennung nötig, welcher wiederum ohne institutionelles Dach nicht abgeschlossen werden kann. Die beiden Vertreter in der Schweiz unserer zwei wichtigsten Nachbarn, die Botschafter Frankreichs – welches in der ersten Hälfte von 2022 zudem die EU-Präsidentschaft innehält – und Deutschlands haben unmissverständlich erklärt, dass sie die gegenseitigen bilateralen Verbindung hoch schätzen und sie auch weiterführen möchten, unter der Bedingung, dass sich Bern jetzt bewege.
Eine Grande Illusion ist es schliesslich davon auszugehen, die EU sei lediglich ein Wirtschaftspartner wie andere, mit denen die Schweiz bilaterale Abkommen abschliesst. Dabei ist Europa auch unsere Heimat; alle Schweizerinnen und Schweizer sind auch Europäer.
*Daniel Woker ist ehemaliger Botschafter und Co-founder von „Share-an-Ambassador /Geopolitik von Experten“ (swiss-ambashare.ch) und Mitglied des Komitees von «Progresuisse».
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