Editorial

Für eine engagierte Schweiz

Die Konferenz vom 15./16. Juni auf dem Bürgenstock zum Frieden in der Ukraine ist ein Erfolg der Schweizer Aussenpolitik. Auf dem Gipfel ging es nicht darum, einen Frieden mit dem Aggressor auszuhandeln. Sondern darum, die Position der Ukraine als Opfer der Aggression zu stärken. Es ist erfreulich, dass dies gelang. 84 der 100 anwesenden Delegationen unterzeichneten eine Schlusserklärung, welche an die Prinzipien der UNO-Charta anknüpfte und somit das Recht auf Souveränität und territoriale Integrität der Ukraine unterstrich. Damit wies die Konferenz die Welt auf das Offensichtliche hin: Russland will mit seinem Feldzug nicht nur die freie Ukraine vernichten, es zertrümmert auch mutwillig die internationale Rechtsordnung und die europäische Sicherheitsarchitektur.

Gerechter statt Diktat-Frieden

Beim politischen und diplomatischen Widerstand gegen Putin geht es um das Völkerrecht und um Europas Sicherheit. Das zeigt sich auch daran, dass der Kreml seit Jahren versucht, im Baltikum, in Moldau oder in Georgien Grenzen zu verschieben und seinen Einfluss auszuweiten. Auch Russlands Cyberattacken und die Desinformationskampagnen gegen europäische Staaten und Einrichtungen beweisen, dass der Diktator im Kreml unseren Kontinent destabilisieren will.

Dank dem Engagement der Schweiz konnte auf dem Bürgenstock klargestellt werden, wer der Aggressor und wer das Opfer ist. Das ist wichtig. Denn je länger die Aggression dauert, desto mehr werden die Fakten im «Nebel des Krieges» aus Propaganda und Desinformation verwischt.

Ein gerechter Frieden in der Ukraine ist das Ziel aller Staaten guten Willens – nicht aber ein Diktatfrieden des Aggressors. Darum muss die Ukraine dabei unterstützt werden, in eine Position der Stärke zu kommen. Dafür braucht sie von der internationalen Gemeinschaft Hilfe in allen Bereichen: militärisch, wirtschaftlich, finanziell, humanitär und diplomatisch. Auch die neutrale Schweiz kann und soll mehr tun. Die Aufhebung des Wiederausfuhrverbots von längst verkauftem Kriegsmaterial an die Ukraine durch Partnerstaaten wie Deutschland, Spanien oder Dänemark ist mit dem Neutralitätsrecht vereinbar und sollte vollzogen werden. Ansonsten muss sich die Schweiz aber auf wirtschaftliche, finanzielle, humanitäre und diplomatische Hilfe konzentrieren. Eine konsequente Durchsetzung der Sanktionen, ein Trockenlegen des russischen Rohstoffhandels in der Schweiz, genügend Wiederaufbau- und humanitäre Hilfe sowie weitere diplomatische Initiativen sind entscheidend.

Für mutige Aussenpolitik

Die Schweiz ist Teil einer gefährlicher werdenden Welt. Nicht nur der verbrecherische Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine besorgt die Bevölkerung. Auch die Klima- und Biodiversitätskrise, der islamistische Terror, der schreckliche Krieg und die Missachtung des humanitären Völkerrechts in Gaza und viele weitere Konflikte, Krisen und geopolitische Spannungen treiben die Menschen zu Recht um. Dazu kommt, dass die Demokratie als Staatsform des Ausgleichs auf allen Kontinenten von autoritären Kräften angegriffen wird.

All diesen höchst anspruchsvollen Herausforderungen muss eine kluge Aussenpolitik mit Mut begegnen. Dem Reflex eines Rückzugs in die vermeintlich sichere Isolation darf im Interesse der Schweiz nicht nachgegeben werden. Als von der Geografie privilegiertes Land sollten wir zu internationalen Lösungen beitragen, welche die liberale Demokratie und eine regelbasierte Weltordnung überleben lassen.

Es braucht mehr internationale Entwicklungszusammenarbeit, mehr Friedensförderung und mehr internationale Klimapolitik. Es braucht eine moderne Auslegung unserer Neutralitätspolitik, welche die Schweiz als glaubwürdige Anwältin des Völkerrechts positioniert. Und es braucht – endlich! – eine Klärung unserer Beziehung zur Europäischen Union, der besten Nachbarin, die die Schweiz je hatte. Angesichts der angesprochenen globalen Herausforderungen ist es kaum unvorstellbar, dass sich die Schweiz gut entwickeln und einen Beitrag zur Lösung der internationalen Probleme leisten kann, wenn sie kein geregeltes Verhältnis zur EU hinkriegt. Nach dem hoffentlich erfolgreichen Abschluss der laufenden Verhandlungen wird darum das Engagement der Zivilgesellschaft und damit auch unserer SGA-ASPE umso wichtiger.

Wohlstand und globale Verantwortung

Gemäss Zahlen der UNO sind aktuell 300 Millionen Menschen auf humanitäre Hilfe angewiesen. Die Weltbank beziffert die Anzahl der von extremer Armut betroffenen Menschen auf rund 700 Millionen.

Nach den Berechnungen des Internationalem Währungsfonds hat die Schweiz das vierthöchste Bruttoinlandprodukt pro Kopf der Welt – nach Luxemburg, Irland und Norwegen. Wenn man als Masseinheit das Vermögen pro Kopf verwendet, ist die Schweiz knapp vor Norwegen sogar das reichste Land überhaupt. Dieser Wohlstand verpflichtet uns zu globaler Verantwortung.

Seit 1970 fordert die UNO, dass die reichen Länder mindestens 0.7 Prozent ihrer Wirtschaftsleistung für die Entwicklungszusammenarbeit zur Verfügung stellen. Im Jahr 2023 trugen Norwegen 1 Prozent, Luxemburg 0.98 Prozent und Schweden 0.87 Prozent ihrer Wirtschaftsleistung bei. In der Schweiz waren es lediglich 0.43 Prozent, wenn man die Ausgaben für das Asylwesen abzählt, welche in gewissen Statistiken fälschlicherweise dazugezählt werden. Es ist kein Ruhmesblatt für die reiche Schweiz, wenn neun Staaten gemessen an der Wirtschaftsleistung mehr zur Entwicklung und zum Frieden beitragen als wir.

Die Klassierung könnte sich noch deutlich verschlechtern, wenn sich das unselige Ansinnen durchsetzt, die massive Aufrüstung der Armee müsse durch drastische Kürzungen bei der Entwicklungszusammenarbeit gegenfinanziert werden. Dieser Kahlschlag auf dem Buckel der Ärmsten würde langjährig aufgebaute Strukturen der erfolgreichen Schweizer Entwicklungspolitik zerstören. Und auch multilaterale Organisationen wie das Welternährungsprogramm, das Menschen vor dem Hungertod bewahrt, oder das UNO-Kinderhilfswerk UNICEF könnten von der Schweiz nicht mehr genügend unterstützt werden. Eine moralische Bankrotterklärung für die humanitäre Tradition und ein schwerer Schaden für das Ansehen der Schweiz in der Welt.

Multilateralismus statt Blockbildung

Gerade im globalen Süden würde die Schweiz ihre Glaubwürdigkeit verlieren, wenn sie sich aus der internationalen Entwicklungszusammenarbeit weitgehend zurückziehen würde. Dabei liegt dort ein grosses Potential für unsere Aussenpolitik. Immerhin ist unser Land Depositarstaat der Genfer Konventionen und zweitwichtigster UNO-Standort. Die Schweiz ist militärisch bündnisfrei und wird in vielen Teilen der Welt als faire Vermittlerin wahrgenommen. Zudem hat die Eidgenossenschaft keine (zumindest direkte) koloniale Vergangenheit und wird innerhalb der multilateralen Institutionen für das ehrliche Bemühen um eine Reform der UNO geschätzt. In vielen Ländern Afrikas, Lateinamerikas oder Asiens hat die Schweiz aus den genannten Gründen ein positiveres Image als viele anderen europäische oder westliche Staaten.

Darum ist unser Land geradezu prädestiniert dafür, die Zusammenarbeit mit dem globalen Süden zu fördern und sich im Interesse des Völkerrechts für einen Multilateralismus jenseits starrer Blöcke einzusetzen. Es kann natürlich nicht darum gehen, sich autokratischen Regimes anzudienen. Aber gerade das erstarkte aussenpolitische Selbstbewusstseins der Demokratien des Südens wie Indien, Brasilien oder Südafrika erfordert Staaten in Europa, deren aussenpolitisches Denken und Handeln über die Logik der Blockbildung hinausgeht.

Anwältin des Völkerrechts

Die Schweiz braucht den Mut, sich konsequent und in allen Situationen auf die Seite der internationalen Rechtsordnung zu schlagen. Auch dann, wenn es etwas kostet oder wenn befreundete Staaten andere Prioritäten verfolgen. Will die Schweiz als Anwältin des Völkerrechts glaubwürdig sein, darf es diesbezüglich keine Doppelstandards und keine Widersprüche geben. Im Gaza-Krieg ist unser Land daran gescheitert. Während die Schweiz am UNO-Hauptsitz in New York zu Recht forderte, dass die unter katastrophalen Verhältnissen leidende Zivilbevölkerung geschützt werden müsse und der Zugang zur humanitären Hilfe nicht behindert werden dürfe, verzögerte und kürzte Bundesbern den eigenen Beitrag zu ebendieser Hilfe.

Im Fall der Bürgenstock-Konferenz für die Ukraine hat der Bundesrat hingegen Mut bewiesen. Wird er diesen auch bei den übrigen aussenpolitischen Herausforderungen finden? Wird er sich im finanzpolitischen Verteilkampf schützend vor die Entwicklungszusammenarbeit stellen? Ist er bereit, sich voll für ein gutes Verhandlungsergebnis mit der EU inklusive einer starken flankierenden Gesetzgebung in den heiklen Bereichen Lohnschutz, Strom und Bahnverkehr einzusetzen? Wird er im Abstimmungskampf gegen die reaktionäre Neutralitätsinitiative engagiert ein modernes Neutralitätsverständnis der Schweiz als Anwältin des Völkerrechts verteidigen?

Die SGA-ASPE wird all diese Herausforderungen der Schweizer Aussenpolitik aktiv begleiten. Wir betreiben keine Propaganda, aber wir haben immer eine Haltung: Für eine aussenpolitisch engagierte Schweiz.

Espresso Diplomatique

Kurz und Kräftig. Die wöchentliche Dosis Aussenpolitik von foraus, der SGA und Caritas. In der Ausgabe Nr. 466, November 2024,  steht die Migrationsvereinbarung der EU mit Tunesien im Fokus. Zahlreiche Flüchtlinge sind unmenschlichen Bedingungen und Abschiebungen in Wüstengebiete ausgesetzt, was zu Spannungen auf der geopolitischen Ebene führt.   Espresso Nr. 466 | 19.11.2024  

Eine Aussenpolitik für die 
Schweiz im 21. Jahrhundert

Neue Beiträge von Joëlle Kuntz (La neutralité, le monument aux Suisses jamais morts) sowie von Martin Dahinden und Peter Hug (Sicherheitspolitik der Schweiz neu denken - aber wie?)

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