Die EU war immer eine Marktgemeinschaft. Das war und ist sie sogar in erster Linie. Aber sie war auch mehr: Eine Friedensgemeinschaft, eine Wertegemeinschaft, eine Solidargemeinschaft. Das liess sie in den letzten zehn Jahren oft fast vergessen. Jetzt nicht mehr.
Der Vorwurf hat sich vor allem bei der politischen Linken in den letzten Jahren immer breiter gemacht: Die EU sei ein neoliberaler Bund neoliberaler Nationalstaaten, dem beizutreten es deshalb keinen Grund mehr gebe. Tatsächlich war die EU immer eine Wirtschaftsgemeinschaft und hat nicht umsonst auch einmal so geheissen (EWG). Es ist zudem nicht zu leugnen, dass sie – im Einklang mit ihren Mitgliedstaaten – in den letzten dreissig Jahren neoliberale Züge angenommen hat, worunter vor allem die Vermarktlichung des Service public zu verstehen ist: Die aktiv vorangetriebene Liberalisierung und Privatisierung öffentlicher Dienste wie Bahn, Post, Telekommunikation, Elektrizitätsversorgung, Gesundheitswesen.
Dieser forcierte Rückzug des Staates aus der Grundversorgung resultierte keineswegs zwangsläufig aus der Herstellung eines unionsweiten Binnenmarktes für Kapital, Dienstleistungen, Waren und Arbeitskräfte, er resultierte aus der Machtübernahme des neoliberalen Denkens in der amerikanischen und europäischen Politik nach der Implosion der Sowjetunion.
Grosser Reputationsschaden nach der Finanzkrise
Die Machtübernahme des neoliberalen Denkens kam am brutalsten bei der Bewältigung der grossen Bankenkrise ab 2007 zum Vorschein, personifiziert durch den damaligen EU-Kommissionspräsidenten Barroso und den deutschen Finanzminister Schäuble. Ihre kategorische Weigerung, den Mitgliedländern bei der Rettung der nationalen Finanzplätze gemeinschaftlich beizustehen, beschädigte massiv den Ruf der EU, auch eine Solidargemeinschaft zu sein.
In Südeuropa wirkte sich diese Weigerung verheerend aus. Da Schuldenmachen verboten war, sahen sie sich gezwungen, ihre bankrotten Banken mit Steuergeldern zu retten. Den Preis zahlte der Sozialstaat, der erheblich geschwächt wurde. Dabei war die EU gerade in den Südländern populär gewesen, weil sie bis dato auch als Solidargemeinschaft wahrgenommen worden war, insbesondere wegen der Zuleitung von Gemeinschaftsgeldern in die strukturschwachen Regionen. Die «Diktatur der Troika» bewirkte einen enormen Reputationsschaden und trug wesentlich bei zum Aufstieg nationalistischer, antieuropäischer Parteien.
Rückbesinnung auf Solidargemeinschaft
Nun aber, bei der Bewältigung der neuen grossen Krise, beweist die EU Lernfähigkeit und kehrt zurück zu einem ihrer wichtigsten Trümpfe: Sie ist wieder eine Solidargemeinschaft. Sie ist geworden, was sie schon vor zwölf Jahren hätte werden sollen: Eine Schuldenunion. Zwar wurde der für neoliberale Geister toxische Begriff «Eurobonds» vermieden, aber de facto ist genau dieses Instrument geschaffen worden: Mit vorerst 700 Milliarden Euro steht die Gemeinschaftskasse den Mitgliedstaaten zur Seite, um mit den wirtschaftlichen und sozialen Schäden der Pandemie fertig werden zu können.
Es brauchte für diesen Kurswechsel ein Deutschland, das endlich begriff, dass es nicht nur der wirtschaftliche Hauptprofiteur von Union und Euro sein kann, dass es nicht nur nehmen darf, sondern auch geben muss. Die Schuldenunion ist zweifellos ein Meilenstein in der Vertiefung der Gemeinschaft. Sie wird den Bestrebungen, aus der europäischen Zentralbank eine richtige Notenbank zu machen, Auftrieb geben. Und das wäre dann ein weiterer, jetzt aber institutionalisierter Ausdruck von Solidargemeinschaft.
Und wie steht es mit der EU als Wertegemeinschaft, die weltweit für Demokratie, Rechtstaatlichkeit und Menschenrechte einsteht? Durchzogen. Die Flüchtlingspolitik hat ihren Ruf als Wertegemeinschaft massiv beschädigt und tut es noch. Sie kollidiert frontal mit den Menschenrechten. Sie ist und bleibt eine Schande. Daneben macht sich die Wertegemeinschaft aber doch auch zaghaft sichtbar in zwei anderen Bereichen: Primär in der Anbindung von Finanzflüssen an rechtsstaatliche Bedingungen. Damit sollen in erster Linie die fehlbaren Mitglieder Polen und Ungarn zur Räson gebracht werden. Zweitens im Umgang mit China: Die EU hat eine Regelung eingeführt, wonach schwere Verstösse gegen die Menschenrechte mit Einreisesperren, mit dem Einfrieren von Vermögen wichtiger Persönlichkeiten oder dem Verbot von wirtschaftlicher Hilfeleistung sanktioniert werden können. Natürlich könnte man sich beide Interventionen auch noch akzentuierter vorstellen, aber es sind doch positiv zu wertende Positionsbezüge der Union als ganzer.
Wie hätte sich die Schweiz verhalten?
Es ist nicht ohne Reiz zu fragen, wie sich die Schweiz wohl verhalten hätte, wenn sie EU-Mitglied wäre. Hätte sie zu den Promotoren von Solidar- und Wertegemeinschaft gehört oder zu den Bremserstaaten? Bei der katastrophalen Flüchtlingspolitik wissen wir es – sie macht als Schengen/Dublin-Staat mit. Bei den Sanktionen gegenüber China wissen wir es auch: Sie macht nicht mit, obwohl sie eigene gesetzliche Grundlagen dafür hätte. Bei der Schuldenunion wissen wir es nicht, aber ich vermute, dass die Schweiz zusammen mit den Niederlanden, Österreich und den skandinavischen Ländern zwar opponiert, aber dann doch kein Veto gewagt hätte. Bei den rechtstaatlichen Auflagen an Ungarn und Polen sehe ich die Schweiz bei denen, die den illiberalen Autokraten nicht länger tatenlos zugeschaut hätten, also auf der richtigen Seite. Gesamtbilanz: Vorteile für die EU.
Kurz und Kräftig. Die wöchentliche Dosis Aussenpolitik von foraus, der SGA und Caritas. In der Ausgabe Nr. 466, November 2024, steht die Migrationsvereinbarung der EU mit Tunesien im Fokus. Zahlreiche Flüchtlinge sind unmenschlichen Bedingungen und Abschiebungen in Wüstengebiete ausgesetzt, was zu Spannungen auf der geopolitischen Ebene führt. Espresso Nr. 466 | 19.11.2024
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