Was vor 20 Jahren selbstverständlich war, soll es wieder möglich werden. Eine gründlich fundierte Diskussion über die Frage, was der Beitritt zur EU in der Schweiz bewirken würde. Matthias Oesch und David Campi liefern dazu die Grundlage für eine vorurteilslose Europadebatte.
«Warum ein Buch über den EU-Beitritt?». Mit dieser Frage machen die Buchautoren Matthias Oesch und David Campi gleich zu Beginn klar, dass sie Tabus nicht scheuen. Sie lassen sich auch von einer angeblichen Alternativlosigkeit zum Bilateralismus nicht davon abhalten. Weil die Verhandlungspartnerin EU den Bilateralismus, wie wir ihn bisher gekannt haben, nicht mehr auf der Angebotspalette führt, sehe sich die Schweiz ohnehin eher früher als später vor die Wahl gestellt zwischen einer Reduktion der Beziehung auf den Freihandel, einem neuen EWR-Anlauf oder dem Sprung zur EU-Mitgliedschaft.
Die Autoren Oesch und Campi sehen die Schweiz «europapolitisch am Scheideweg». Die Alternativen, die pragmatisch auf die Schweiz zugeschnitten erscheinen mögen, erachten sie als wenig attraktiv. Der bilaterale Ansatz sei «störungsanfällig», «unübersichtlich und wenig systematisch aufgebaut». Mit der fortlaufenden Übernahme von EU-Recht delegiere die Schweiz die Rechtsprechung an die EU, was demokratiepolitisch problematisch sei.
Ein Rückbau zu einem Freihandelsabkommen würde zwar erlauben, institutionell nach klassischen völkerrechtlichen Mustern zu verfahren. Doch den Bedürfnissen der Wirtschaft entspräche es nicht.
Den EWR schätzen Oesch und Campi als wenig verlockend ein, weil EU-Recht quasi automatisch übernommen werden müsste. Die Schweiz würde auch das Einstimmigkeitsprinzip auf Seiten der drei EWR-EFTA-Staaten Norwegen, Island und Liechtenstein «strapazieren» und deren eingespielte Zusammenarbeit stören.
Deshalb rücke die «Gretchenfrage ins Zentrum» – weg von der Praxis, als Passivmitglied die Rechtsentwicklungen in der EU im Akkord lediglich nachzuvollziehen, hin zur konstruktiven Mitwirkung und Übernahme von Verantwortung». Die Mitgestaltung der Zukunft im Verbund mit gleichgesinnten Staaten liege im ureigenen Interesse der Schweiz, positionieren sich die Autoren für einen EU-Beitritt.
Was der Beitritt bedeuten würde? Diese Frage leuchten Oesch und Campi aus. Welche Voraussetzungen müsste die Schweiz erfüllen, in welchen Bereichen könnte sie sich Chancen auf Übergangsbestimmungen und Ausnahmen ausrechnen, wie würde sich der Beitritt auf die Staatsleitungsorgane der Schweiz und wie auf die Volksrechte in der Schweiz auswirken?
Beitrittsfähig ist die Schweiz grundsätzlich – sowohl politisch als auch wirtschaftlich. Der Weg zum Beitritt wäre deshalb kürzer als für die neuen Kandidatenländer. Anpassungsbedarf an EU-Unionsrecht gäbe es dennoch und würde mit Wettbewerbsrecht, Landwirtschaft, Service public, Mehrwertsteuer, Geld- und Währungspolitik und Aussenwirtschaftspolitik eine doch ziemlich breite Themenpalette umfassen. Verfassungsänderungen würden nötig, die dem Volk vorgelegt werden müssten.
Es müsste aber nicht alles sofort passieren. Die Schweiz könnte in den Beitrittsverhandlungen versuchen, für besonders sensible Bereiche Übergangsbestimmungen auszuhandeln und dauerhafte Ausnahmeregelungen anzustreben. Die Erfahrungen mit dem EWR zeigten indes, dass der Raum für weitreichende Sonderregeln nicht sehr gross sein dürfte.
Auch regierungs- und demokratiepolitisch gäbe es Anpassungsbedarf. Sich regelmässig in den EU-Gremien auf allen Ebenen Gehör zu verschaffen würde eine Stärkung des Bundespräsidiums und die Vergrösserung der Regierung erfordern. Und weil das supranationale EU-Recht Vorrang vor mitgliedstaatlichem Recht hat, würde sich das Spannungsverhältnis zwischen direkter Demokratie und europäischer Integration verschärfen. Das System der halbdirekten Demokratie könnte zwar beibehalten werden, müsste aber wegen des Vorrangs von EU-Recht eingeschränkt werden.
Die Schweiz sollte den Blick aber nicht einseitig auf die «unvermeidlichen Terrainverluste der Volksrechte», meinen Oesch und Campi. Denn umgekehrt könnte sie über die Mitgliedschaft aktiv die Weiterentwicklung des EU-Rechts mitgestalten, das sie heute passiv nachvollziehe.
Illusionen darf sich die Schweiz nicht hingeben: Beitritt bedeutet Übernahme dessen, was über die Jahrzehnte in der EU gewachsen ist an Grund- und Sekundärrechtsakten, Leitlinien und Mitteilungen, Stellungnahmen, Beschlüssen und Vereinbarungen. Das mag abschreckend wirken. Doch schon bisher übernimmt die Schweiz routinemässig ohne Murren EU-Recht. Zwischen 40 und 60 Prozent der Bundesgesetzgebung sei direkt oder indirekt von EU-Recht beeinflusst, geben Oesch und Campi zu bedenken. Mit einem Beitritt könnte sich die Schweiz belohnen. Sie könnte die Regeln mitgestalten, die sie ohnehin betreffen.
Die Autoren Oesch und Campi schliessen eine Lücke, die seit der Degradierung des Ziels EU-Beitritt in den 2000er Jahren zu einer europapolitischen Option neben anderen Optionen immer grösser wurde. Mehr als zehn Jahre sind es her, seit der Bundesrat letztmals eingehend analysiert hat, was der Beitritt bedeuten würde. Es ist das Verdienst der Europarechtler Oesch und Campi mit ihrer Publikation die Lücke zu schliessen, die seither immer grösser wurde. Sie bieten eine fundierte Grundlage für eine vorurteilslose EU-Diskussion.
Matthias Oesch und David Campi, Der Beitritt der Schweiz zur Europäischen Union, Voraussetzungen, Verfahren, Ausnahmen, Staatsleitung, Volksrechte, EIZ-Publishing 2022, 311 Seiten. Das Buch ist auch als kostenfreies E-Book erhältlich
Kurz und Kräftig. Die wöchentliche Dosis Aussenpolitik von foraus, der SGA und Caritas. In der Ausgabe Nr. 466, November 2024, steht die Migrationsvereinbarung der EU mit Tunesien im Fokus. Zahlreiche Flüchtlinge sind unmenschlichen Bedingungen und Abschiebungen in Wüstengebiete ausgesetzt, was zu Spannungen auf der geopolitischen Ebene führt. Espresso Nr. 466 | 19.11.2024
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