Kolumne

Die Neutralität – gedehnt, relativiert oder verletzt

Die Übernahme der Sanktionen gegen Russland, als Verletzung der Neutralität kritisiert, hat einmal mehr die Debatte über den aussenpolitischen Spielraum der Schweiz aktiviert. Wieder einmal steht die Neutralität im Zentrum der öffentlichen Debatte. Die Frage, wie weit die Aussenpolitik neutralitätskonform sei, ist ein Dauerbrenner. Denn seit Jahrzehnten wird die Neutralität je nach Interessenlage gedehnt, relativiert oder schlicht verletzt. Hier einige historische Beispielen der widersprüchlichen und doppelbödigen Neutralität der Schweiz.

Keine Neutralität «zwischen Westeuropa und dem Slawentum»

1948, als sich die westlichen Staaten gegen den Ostblock zu organisieren begannen, suchte man im Eidgenössischen Politischen Departement nach neuen Auslegungen der Neutralität. Alfred Zehnder, Chef der politischen Abteilung des EPD meinte dabei im Schlussteil eines langen, am Treffen der Schweizer Gesandten vorgetragenen Referats: «In einem Konflikt zwischen Westeuropa und dem Slawentum gibt es für die Schweiz weder Gesinnungsneutralität noch staatliche Neutralität. Die Schweiz hat ausserhalb Westeuropas, zu dem sie gehört, keinen Bestand» (dodis.ch/4346).[1]

Zehnders Aussage hat eine grundsätzliche Bedeutung. Sie zeigt, dass die Schweiz sich trotz Neutralitätspolitik in einem internationalen Umfeld befindet, in dem die Neutralität faktisch nur beschränkt aufrechterhalten werden kann. Insbesondere der Aussenhandel und die internationalen Finanzbeziehungen, auf die die Schweiz in keiner Weise verzichten kann, widersprechen nicht selten dem Neutralitätscredo. Mit diesem Zielkonflikt hat sich nicht zuletzt Bundesrat Max Petitpierre, Vorsteher des Politischen Departements von 1945 bis 1961, intensiv beschäftigt.

Petitpierre 1950: «teilweise eine Fiktion»

Ähnlich wie Zehnder beschrieb Petitpierre 1948 in einem längeren Exposé dieses doppelte Gesicht der Neutralität. Es sei, meinte Petitpierre, illusorisch sich vorzustellen, die Schweiz könne zwischen den beiden Blöcken West und Ost dieselbe Rolle spielen wie zuvor zwischen Deutschland, Frankreich, Österreich und Italien. Wir seien übrigens, schloss er, schon jetzt Teil einer Gruppe in der gespaltenen Welt, ob wir es wollten oder nicht. [2]

An der Sitzung der aussenpolitischen Kommission des Nationalrates vom 6. März 1950 nahm Petitpierre einmal mehr diese Thematik auf. Gewiss müsse man, meinte er, die traditionelle Neutralitätspolitik weiter pflegen, «aber mit dem Bewusstsein, dass diese Politik teilweise eine Fiktion» sei.[3] Die wirtschaftlichen Verflechtungen mit der westlichen Staatenwelt machten in der Tat einen strikten Neutralitätskurs unmöglich. Das zeigte sich beim Beitritt zum Marshall-Plan (1947) und zur Organisation of European Economic Cooperation OEEC. Gewiss diente der Marshall-Plan dem wirtschaftlichen Aufbau Europas; er verfolgte aber gleichzeitig eine gegen den Ostblock und die kommunistischen Bewegungen gerichteten Politik. Und die für die wirtschaftliche Zusammenarbeit Europas geschaffene OEEC nahm gleichzeitig die ökonomischen Interessen der NATO wahr. Dies bedeutete für die Schweiz, dass die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit der westlichen Staatenwelt zu politischen und militärischen Anbindungen führte, die einem strikten Neutralitätsverständnis widersprachen. In diplomatischen Kreisen und im politischen Department (heute EDA) war diese Sachlage durchaus erkannt – aber in der Öffentlichkeit hielt man an einem heilen Neutralitätsbild fest. Dies führte bezüglich der Neutralitätspolitik zu einem Zielkonflikt: faktisch musste sich die Aussenpolitik neutralitätsgefährdenden Abkommen anschliessen, gleichzeitig aber das Bild einer unbefleckten Neutralität hochhalten.

Der Kunstgriff: «Politisch» vs. «technisch»

Um diesen Zielkonflikte zu überspielen, entwickelte man in Bern eine subtile Strategie. Verträge und Auslandsbeziehungen sollten in zwei Kategorien aufgeteilt werden: die eine galt als «politisch», die andere als «technisch». Politisch klassifizierte Verträge galten als neutralitätswidrig, technische Übereinkommen waren demgegenüber neutralitätskonform. Der Marshall-Plan und die OEEC, denen die Schweiz ohne Zögern beitrat, wurden in Bern als «technisch» eingestuft und waren damit neutralitätskonform, obwohl diese Abkommen ganz offensichtlich auch politische, d.h. gegen den Ostblock gerichtete Komponenten enthielten. In der Folge wurde auch weiterhin mit den willkürlichen Kriterien «politisch» oder «technisch» abgewogen, ob die Beteiligung der Schweiz an internationalen Abkommen neutralitätskonform oder neutralitätswidrig sei. So wurde mit dem Argument «politisch» jahrelang der Beitritt zum Europarat zurückgewiesen. Als sich dann aber die EWG zu formieren begann, sah der Bundesrat im Beitritt zum Europarat (1963) eine Möglichkeit, sich doch noch ohne grosse Kosten einer europäischen Institution anzuschliessen. Das Ziel war, dabei zu sein, ohne allzu grosse Verpflichtungen zu übernehmen.

Auch heute pflegt die schweizerische Aussenpolitik eine ähnlich ambivalente Haltung. Allerdings melden sich immer mehr Stimmen, die diese doppelbödige Politik in Frage stellen. Lange wird man wohl die «Fiktion» Neutralität nicht mehr aufrechterhalten können.


*Prof. Dr. Hans Ulrich Jost ist Historiker. Von 1981 bis 2005 war er ordentlicher Professor für Neuere Allgemeine und Schweizergeschichte an der Universität Lausanne. Von 2005 bis 2014 war er Präsident des Editionsprojekts Diplomatische Dokumente der Schweiz (DDS), dem er seit den 1980er Jahren angehört.

[1] Diplomatische Dokumente der Schweiz, 1848 ff., Online Datenbank Dodis: dodis.ch.

[2] Diplomatische Dokumente der Schweiz DDS, Band 17, 1999, S. 200

[3] Daniel Trachsler, Neutral zwischen Ost und West, Zürcher Beiträge zur Sicherheitspolitik und Konfliktforschung, Nr.63, 2002, S.213.

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