Die als Dogma gepflegte Neutralität hat den Beitritt der Schweiz zur Uno um Jahrzehnte verzögert. Eine Sammlung von Dokumenten illustriert die Mühen und die Schritte auf dem Weg zur Normalisierung.
Es «hätte eigentlich bereits seit 1946 selbst für die Schweiz evident sein müssen, dass neutrale Staaten problemlos auch als Uno-Mitglieder neutral bleiben konnten». So schliessen Sacha Zala und Flurina Felix, Leiter und Mitarbeiterin der Forschungsstelle Dodis, ihre Einleitung zu einer Zusammenstellung aussenpolitischer Dokumente über das Verhältnis der Schweiz zu den Vereinten Nationen von 1942 bis 2002. Uneingeschränkt möchte man dieses Urteil nicht teilen. Schweden erwähnte bei seinem Beitritt zur Uno 1946 die Neutralität nicht und hatte nach Ansicht des Generalversammlungspräsidenten auf sie verzichtet. Zwischen einer Ordnung kollektiver Sicherheit und dem Sich-Fernhalten eines Staats von sämtlichen Konflikten besteht ein Widerspruch, und die Schweiz wollte eben für alle Eventualitäten abgesichert sein.
Der lange Weg zur Kompatibilität
Zuerst erwog man in Bern einen Beitritt (nur) unter explizitem Vorbehalt der Neutralität – nicht zuletzt im Anschluss an die Anerkennung der schweizerischen Sonderstatus im Völkerbund 1920 (eingeschränkt) und 1938 (integral). Doch die Mächtekonstellation hatte sich geändert. Ein sondierender Brief von Bundesrat Max Petitpierre nach New York blieb 1946 ohne Antwort. In der Folge blieb die Schweiz der neuen Friedensorganisation vorerst fern, trat aber den meisten «technischen» Sonderorganen und Programmen bei.
Drei ausführliche Berichte – der erste erfüllte ein Postulat von Nationalrat Willy Bretscher aus dem Jahr 1967 – mündeten später, 1981, in die Botschaft über den Beitritt. Befürchtungen um die Neutralität begegnete der Bundesrat einerseits mit dem Hinweis, dass das System der Sanktionen praktisch nicht funktioniere (die Veto-Mächte blockierten sich im Kalten Krieg), anderseits mit dem Plan, vor und nach dem Beitritt eine (rechtlich unbedeutende) Neutralitätserklärung abzugeben. Ein Versuch, eine anerkennende Resolution der Generalversammlung zu erwirken, erschien als zu riskant und unterblieb. 1986 verwarf das Volk die Vorlage mit überraschendem Dreiviertelmehr.
Beim zweiten, 2002 erfolgreichen Anlauf hatte die Argumentation gewechselt. Das Neutralitätsrecht, erkannten Juristen, finde bei UNO-Sanktionen «keine Anwendung». Der Bundesrat schrieb in 1998 in einem Bericht, zwischen zwei Wegen der Friedenssicherung – Neutralität und Sanktionen – könne es keinen Gegensatz geben, und akzeptierte faktisch den Vorrang der Charta. Dennoch hielt er «aus innenpolitischen Erwägungen» an einer Erklärung fest, als der Schritt zur Mitgliedschaft endlich gemacht werden konnte.
In der «absoluten» Neutralität gefangen
Hatten Regierung und Diplomatie, im Rückblick beurteilt, auf die innenpolitische Rolle der Neutralität, eines nationalen Mythos, zu viel Rücksicht genommen? Die verbreiteten Bedenken, die Schweiz würde in der UNO früher oder später zur Konfliktpartei, konnten nicht ignoriert werden. Doch erhielten sie durch die prominente Auseinandersetzung mit teilweise hypothetischen Fragen noch zusätzliches Gewicht. Die Zweideutigkeit des Neutralitätsattributs «immerwährend» (nicht nur fallweise oder aber völlig zeitlos) und ein Pathos in Formulierungen wie «die Bastion des schweizerischen Staates» (so der spätere Staatssekretär Albert Weitnauer 1978) trugen zur Dogmatisierung bei. Dabei passte die Betonung der «absoluten» Neutralität in der Nachkriegszeit eigentlich schlecht zu den während des Krieges eingegangenen Kompromissen und zur «très mauvaise presse» der Neutralität im Ausland, wie man sie etwa 1943 konstatierte. Der Systemkonflikt Ost-West und die wirtschaftlichen Spannungen Nord-Süd hätten Gründe sein können, den aussenpolitischen Leitbegriff klarer zu relativieren.
Auch im Konkreteren wurde immer wieder äusserst vorsichtig agiert oder eben abgewartet. 1946 forderte die Landesverteidigungskommission vorsorglich, dass der Sicherheitsrat seinen Sitz nicht in Genf nehme und dessen Generalstabskomitee nie in der Schweiz tage. Als 1955 die Aufnahme 16 neuer Mitgliedstaaten bevorstand, fand Petitpierre, es wäre «prématuré», sich Gedanken über eine universell werdende Weltorganisation zu machen. Bemühungen, sich vermehrt an friedenserhaltenden Aktionen der UNO zu beteiligen, fanden im Bundesrat 1967 zu wenig Unterstützung (und scheiterten 1994 in der Volksabstimmung über die erste Blauhelm-Vorlage). Während der UNO-Generalsekretär ab und zu in Genf oder Bern Gespräche mit dem Schweizer Aussenminister führte, gab es eine «Tradition» (1986), dass dieser sich nicht nach New York begebe.
Allerdings registrierten Vertreter der Schweiz wiederholt positive oder zumindest freundliche Äusserungen der UNO-Spitze zu den Diensten des Nichtmitglieds und Verständnis für dessen besondere Situation. Generalsekretär Dag Hammarskjöld soll 1961 sogar bereit gewesen sein, sich für eine Sonderlösung einzusetzen, um der Schweiz – nach Regelung der Vertretung Chinas und Deutschlands – den Beitritt zu erleichtern. Handfeste Nachteile bekam die Schweiz in ihrer Beobachterposition kaum zu spüren.
Eine gewisse Wende bedeutete 1990 die Beteiligung an den Wirtschaftssanktionen gegen den Irak – «dans une situation que jadis l’on dénommait <neutralité impossible>», wie Nationalrat Gilles Petitpierre, der Sohn des früheren Aussenministers, sagte. Thomas Borer, damals Mitarbeiter in der Völkerrechtsdirektion, schrieb danach in einer Notiz vom «instrumentalen Charakter» der Neutralität.
Wandel der Mentalität
Mit 50 Dokumenten und zahlreichen Links zu weiteren Akten erlaubt die Publikation aufschlussreiche Blicke in ein wichtiges Kapitel Aussenpolitik. Höchstens indirekt wird naturgemäss der Kontext beleuchtet. Dazu gehörte einerseits die Entwicklung der UNO (von der Polarisierung im Kalten Krieg hin zu einer relativ positiven Phase in den 1990er Jahren), anderseits ein Mentalitätswandel in der Schweiz, zu dem demütigende Erfahrungen wie die Vorwürfe wegen des Verhaltens im Zweiten Weltkrieg oder das Grounding der Swissair vermutlich mehr beigetrugen als der neue völkerrechtliche Diskurs. Lange nachdem die Zugehörigkeit zur UNO «ein simples Attribut der Staatlichkeit geworden» war (der Diplomat Paul Stauffer 1976), beharrte eine Volksmehrheit in dieser Beziehung nicht mehr auf einem Sonderfall Schweiz.
Sacha Zala und Flurina Felix (Hg.): Die Schweiz und die Konstruktion des Multilateralismus, Bd. 3, Diplomatische Dokumente der Schweiz zur Geschichte der UNO 1942-2002. Bern 2022, 292 S., ca. € 7.-, Gratis-Download: www.dodis.ch
Kurz und Kräftig. Die wöchentliche Dosis Aussenpolitik von foraus, der SGA und Caritas. In der Ausgabe Nr. 466, November 2024, steht die Migrationsvereinbarung der EU mit Tunesien im Fokus. Zahlreiche Flüchtlinge sind unmenschlichen Bedingungen und Abschiebungen in Wüstengebiete ausgesetzt, was zu Spannungen auf der geopolitischen Ebene führt. Espresso Nr. 466 | 19.11.2024
Neue Beiträge von Joëlle Kuntz (La neutralité, le monument aux Suisses jamais morts) sowie von Martin Dahinden und Peter Hug (Sicherheitspolitik der Schweiz neu denken - aber wie?)
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