Die Aussenpolitik ist Sache des Bundes. Es gibt aber gute Gründe, warum die Kantone in der schweizerischen Europapolitik mitreden sollen. Sie sind durch die Verfassung dazu legitimiert und haben dafür die nötigen Kompetenzen, nutzen sie doch die föderalen Gestaltungsspielräume und wissen, wie man auf der übergeordneten Staatsebene wirksam Interessen vertritt. Sie haben Erfahrung mit Aufgabenteilungen, die sowohl der effizienten Zielerreichung wie auch den regionalen Eigenheiten Rechnung tragen. Damit sind sie in der Lage, tragfähige Lösungen für stabile Beziehungen mit der EU zu erarbeiten.
Für Kantone sind die Folgen des gescheiterten Rahmenabkommens schon heute schmerzhaft. Für diejenigen an der Schweizer Grenze sind die Verflechtungen in Wirtschaft, Wissenschaft und Zivilgesellschaft mit dem Ausland aber besonders weitgehend. Deshalb haben alle Kantone gemeinsam mit den Regionen im grenznahen Ausland am 5. Juli 2022 dem Schweizerischen Aussenminister, Ignazio Cassis, und Maroš Šefčovič, dem Vizepräsidenten der Europäischen Kommission, einen Brief geschrieben.
Kantone fordern «strategische Entscheidung»
Das «gelebte Europa» in den Grenzregionen leide seit dem Verhandlungsabbruch stark unter den Blockaden und Störungen im bilateralen Verhältnis der Schweiz mit der EU, heisst es im Brief. Zudem führe der völkerrechtswidrige Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine vor Augen, dass Frieden, Freiheit und Wohlstand in Europa nur gemeinschaftlich gewährleistet werden könne. Der Bundesrat und die Kommission werden aufgefordert, konstruktive Lösungsvorschläge zu machen, damit die Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU besser werden. Die Gestaltung der gegenseitigen Beziehungen sei angesichts der grossen Zukunftsaufgaben «eine strategische Entscheidung».
Die Kantone sind mit der Europapolitik des Bundes nicht zufrieden. Die Zeit der Appelle und Schuldzuweisungen ist für sie jetzt vorbei: Anstatt sich über technische Verfahren im Kreis zu drehen, sollte der Bundesrat endlich auf die Potenziale und Erträge des privilegierten Zugangs zum zweitgrössten Binnenmarkt der Welt fokussieren. Zudem ist es aus kantonaler Sicht ein Gebot der Stunde, Klimawandel, Energieversorgung und (Cyber)Sicherheit nicht nur aus einer Binnenoptik, sondern auch innerhalb des europäischen Kontextes zu sehen.
Natürlich haben auch die Kantone ihren Teil dazu beigetragen, dass die Europapolitik unseres Landes wieder einmal in einer Sackgasse steckt (Stichworte: Staatsbeihilfen, Unionsbürgerrichtlinie). Aber es ist der Bundesrat, der die Verhandlungen über ein seit den frühen 2000er Jahren von ihm selbst angestrebten institutionellen Rahmenabkommen abgebrochen hat, und zwar gegen den ausdrücklichen Willen der Kantone.
ZH, VD, BE, TI – Hauptprofiteure vom Binnenmarkt
Das Unbehagen der Kantone im Kleinstaat geht aber weit über diesen in der Aussenpolitik der alten wie neuen Eidgenossenschaft wohl einmaligen Verhandlungsabbruch hinaus: Mochte die erste selektive Annäherung an die EU zwischen 1950 und 1992 noch wirtschaftlich geprägt gewesen sein, so gilt seit dem EWR-Nein sowohl innenpolitisch als auch im Verhältnis zur EU der Primat der Politik. Die Kantone befürchten schon länger, dass der Bundesrat mit der EU über Dinge verhandeln könnte, ohne dabei ihre Interessen genügend zu berücksichtigen. Sie vermuten manchmal, dass die Bundespolitik nicht realisiert, welche Bedeutung die Verflechtungen mit Europa im Alltag der Kantonsbevölkerungen haben.
Deshalb wollen und müssen die Kantone in der Europapolitik mitreden. 1993 gründeten sie die Konferenz der Kantonsregierungen (KdK). Die Bundesverfassung von 1999 erhöht folgerichtig ihr Gewicht bei den Themen, die sie betreffen. Dieser Mitwirkungsföderalismus kann zu produktiven Spannungen in der Innenpolitik führen, etwa bei Steuerfragen, wie das Kantonsreferendum von 2004 zeigt. Diese Spannungen entladen sich aber, wie jetzt wieder, vor allem in der Europapolitik.
Für stabile Beziehungen mit der EU ist es unverzichtbar, dass die Kantone ihre europapolitischen Interessen gegenüber dem Bund mit Nachdruck vertreten. Seit dem Freihandelsvertrag (1972) sowie den Bilateralen I (1999) und II (2004) hat der Handel mit Waren und Dienstleistungen zwischen der Schweiz und der EU stark zugenommen. Das Volumen beträgt 1 Milliarde Euro pro Arbeitstag. Gemäss einer Studie der Bertelsmann Stiftung aus dem Jahr 2019 profitiert das Nicht-EU-Land Schweiz dank den rund 20 Hauptabkommen und 100 weiteren Verträgen mehr als jedes EU-Mitglied vom Binnenmarkt. Sieben von zehn von 250 untersuchten europäischen Regionen, die den grössten wirtschaftlichen Nutzen von der europäischen Integration haben, liegen in der Schweiz. Dazu gehören beispielsweise die Kantone Zürich, Bern, Waadt und Tessin.
Der Verhandlungsabbruch gefährdet diese starke wirtschaftliche Position der Kantone in Europa. Er stellt die wirtschaftliche Dynamik, den Wohlstand und die Stabilität in unserem Land in Frage. Die Kantone bekommen den Wertverlust der bestehenden Verträge und Abkommen ganz konkret zu spüren. Heute ist dies bereits in der Forschung, der Bildung und wegen der Zunahme technischer Handelshemmnisse auch bei den Medizinprodukten und (in etwas abgeschwächter Form) bei den Maschinen der Fall.
Kantonsregierungen: Über die dynamische Rechtsübernahme sprechen
Was schlagen die Kantone vor, damit die Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU nicht weiter erodieren?
Die Kantone diskutieren darüber, anstelle der bisherigen Ablehnung bei der Personenfreizügigkeit (insbesondere hinsichtlich der UBRL) allenfalls eine dynamische Rechtsübernahme zu akzeptieren. Auch bei der Streitbeilegung könnte eine offenere Position eingenommen werden. Zudem haben sich die Kantone für eine aktivere Kommunikation in der Europapolitik ausgesprochen.
Die Schweiz ist in einer schwierigeren Lage als nach dem EWR-Nein vor 30 Jahren. Ob der Bund die Signale der Kantone diesmal hören will?
Die Kantone befassen sich intensiv mit der Europafrage. Eine von ihnen eingesetzte Europakommission vertieft zusammen mit den Direktorenkonferenzen die Arbeiten zu den institutionellen Fragen sowie zu den Auswirkungen des Verhandlungsabbruchs auf die bestehenden Verträge. Die prioritären Interessen der Kantone sollen festgelegt, Vorschläge zur künftigen Positionierung erarbeitet und aktiv in die Diskussion zu den künftigen Beziehungen Schweiz-EU eingebracht werden. Die nächste Plenarversammlung der KdK findet am 23. September 2022 statt.
Dr. Thomas Moser ist Beauftragter des Regierungsrats des Kantons Bern für Aussenbeziehungen und Mitglied des Vorstands der SGA-ASPE.
Kurz und Kräftig. Die wöchentliche Dosis Aussenpolitik von foraus, der SGA und Caritas. In der Ausgabe Nr. 466, November 2024, steht die Migrationsvereinbarung der EU mit Tunesien im Fokus. Zahlreiche Flüchtlinge sind unmenschlichen Bedingungen und Abschiebungen in Wüstengebiete ausgesetzt, was zu Spannungen auf der geopolitischen Ebene führt. Espresso Nr. 466 | 19.11.2024
Neue Beiträge von Joëlle Kuntz (La neutralité, le monument aux Suisses jamais morts) sowie von Martin Dahinden und Peter Hug (Sicherheitspolitik der Schweiz neu denken - aber wie?)
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Das Schweizer Mandat im UNO-Sicherheitsrat (2023 und 2024) fällt in turbulente Zeiten, der Rat hat Schwierigkeiten, in den grossen Fragen Entscheide zu fällen. Jeden Samstag fassen wir das Ratsgeschehen und die Haltung der Schweiz zusammen.
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