Nach Nicolas Schmit, Mitglied der Europäischen Kommission, müssen die wirtschaftliche und die soziale Integration Hand in Hand gehen. In einer Aussenpolitischen Aula an der Universität Zürich sprach er über Regelungen und Programme für Beschäftigung und zum Schutz der Arbeitnehmenden. Er betonte die gemeinsamen Anliegen der EU und der Schweiz.
«Ist die EU ein soziales oder unsoziales Projekt?» Die SGA, das Europa-Institut an der Universität Zürich und die EU-Delegation in der Schweiz stellten diese Frage im Titel ihrer gemeinsamen Veranstaltung, weil die europäische Integration oft vor allem als wirtschaftliche Liberalisierung wahrgenommen wird. Skepsis ist dementsprechend besonders bei der politischen Linken anzutreffen, trotz internationalistischer Tradition. Die gewerkschaftliche Blockadehaltung gegenüber dem inzwischen gescheiterten Rahmenabkommen lässt sich jedenfalls nicht allein durch die vieldiskutierten Einzelheiten des Lohnschutzes bei grenzüberschreitenden Dienstleistungen erklären.
Versprechen des Fortschritts für alle
Für den luxemburgischen SP-Politiker Nicolas Schmit, seit 2019 in Brüssel Kommissar für Beschäftigung und soziale Rechte, ist die EU «natürlich» ein soziales Projekt. Schon laut den Gründungsverträgen sei sie eine soziale Marktwirtschaft, und bereits 1957 wurde der Europäische Sozialfonds geschaffen, der die geografische und berufliche Mobilität fördert. Es gebe ein Grundversprechen des sozialen Fortschritts, dass alle am Wohlstand teilhaben könnten. Heute sei diese Ader des Binnenmarktes nicht mehr wegzudenken, wenn man den digitalen und zudem den klimapolitischen Wandel schaffen wolle. Allerdings befinde sich die Union nicht auf dem Weg zu einem europäischen Sozialstaat. Aufgaben wie die Altersvorsorge (und generell die wichtigsten Umverteilungsmechanismen) bleiben national.
Schmit räumte ferner ein, dass es auch schon neoliberale Politiken gegeben habe, und brachte die populistische EU-Feindlichkeit in einen Zusammenhang mit der Vernachlässigung von Bedürfnissen der Menschen. Die Union habe aber aus Fehlern gelernt, gerade in der Corona-Krise, als sie mit dem SURE-Programm nationale Kurzarbeitsregelungen unterstützte. Hinzu kommt das riesige Konjunkturpaket NextGenerationEU – ein Ausdruck der Solidarität unter den Mitgliedsländern, die Schmit in enger Verbindung mit der innergesellschaftlichen Solidarität erwähnte.
Aktionsplan gegen Armutsrisiken
Mit der Europäischen Säule sozialer Rechte hat sich die EU im November 2017 drei Themen gesetzt: Chancengleichheit und Arbeitsmarktzugang, faire Arbeitsbedingungen sowie Sozialschutz und soziale Inklusion. Gehandelt wird mit spezifischen Empfehlungen an die einzelnen Mitgliedstaaten und mit Regulierungen, ausdrücklich unter Einbezug der Sozialpartner und der Zivilgesellschaft. Gemäss dem 2021 beschlossenen Aktionsplan (für Union und Staaten) sollen 2030 mindestens 78 Prozent der 20- bis 64-Jährigen einen Arbeitsplatz haben, mindestens 60 Prozent jedes Jahr eine Fortbildung absolvieren und mindestens 15 Millionen Menschen weniger von Armut bedroht sein. Als Beispiele von sozialpolitischen Rechtserlassen der EU nannte Schmit unter anderem die Richtlinie für nationale Mindestlohnregelungen (in Verhandlung), einen Vorschlag für die Rechte bei Plattformarbeit (durch Internetdienste vermittelte Aufträge) und einen geplanten Richtlinienentwurf über die Grundsicherung.
Besonders hob der Gastredner vor einem schweizerischen Publikum die Revision der Entsenderichtlinie hervor, die den Grundsatz des gleichen Lohns für gleiche Arbeit am gleichen Ort bekräftigt und erweitert. Von der Personenfreizügigkeit soll zu fairen Bedingungen Gebrauch gemacht werden. Zur Durchsetzung der Vorschriften, auch bezüglich der Koordination der sozialen Sicherungssysteme, wird die Europäische Arbeitsbehörde aufgebaut. Sie wirkt mit Information, Zusammenarbeit und Inspektionen – also nicht als Gericht.
Konvergenz mit der Schweiz
Auf die Streitpunkte zwischen der EU und der Schweiz ging der Kommissar in der jetzigen exploratorischen Phase verständlicherweise nicht ein. Er betonte indessen die allgemeine Annäherung der Politiken für faire Arbeitsbedingungen und hielt fest: «Ein soziales Europa braucht die Schweiz. Und genauso braucht die Schweiz ein soziales Europa.» Er sei «überzeugt, dass wir es schaffen werden. Meinungsverschiedenheiten zu überwinden und zueinander zu finden». Doch solange es keine systematischen Lösungen gebe, würden die bestehenden Abkommen erodieren Auch müssten sie voll und ganz umgesetzt werden. Wenn arbeitenden Menschen in einem anderen Land Rechte verweigert würden, sei das alles andere als sozial, sagte Schmit, ohne konkreter zu werden.
In der von Markus Mugglin geleiteten Diskussion wollte Monika Rühl, Direktorin von Economiesuisse, die Politik der EU nicht kommentieren. Indem sie Europa die Wiege der sozialen Errungenschaften nannte und auf die Ähnlichkeit von Ansätzen der Schweiz und der Union hinwies, zeigte sie, dass eine Einigung mit Brüssel eigentlich nahe liegen sollte. SP-Nationalrat Eric Nussbaumer, Präsident der Europäischen Bewegung Schweiz und Mitglied des SGA-Vorstands, plädierte speziell für die Übernahme der Entsenderichtlinie, fragte aber, ob das Verfahren zur Streitbeilegung in diesem Bereich unbedingt gerichtlich sein müsse. Thematisch begrenzt und eventuell befristet sollte ein politisches Verfahren (auf Ministerebene) infrage kommen, analog dem Schengen-Vertrag.
Schmit bekundete allgemein Offenheit mit Blick auf künftige Verhandlungen Er betonte indes die Rolle des Rechts und seiner Durchsetzung in der EU. Der Europäische Gerichtshof, der früher die Dienstleistungsfreiheit etwas höher gewichtet hatte als Arbeitnehmerrechte, müsse die inzwischen erfolgten gesetzgeberischen Korrekturen beachten und habe auch selber eine Entwicklung durchgemacht. Bei der Kontrolle der Löhne lasse sich über die Modalitäten reden. In Schweden etwa erfüllen die Sozialpartner diese Aufgabe (was auch den schweizerischen Gewerkschaften wichtig wäre).
Die weltpolitische Lage begünstigte eine harmonische Stimmung. «Die Invasion der Ukraine hat gezeigt: wir gehören zusammen! Wir teilen die gleichen demokratischen Werte, und wir sind enge politische Verbündete», erklärte der Vertreter der EU. Hans-Jürg Fehr, der die Veranstaltung seitens der SGA leitete, schloss mit dem Aufruf, es sei nach 15 Jahren Abkühlung Zeit für eine Phase der Aufwärmung. Die Schweiz sollte sich auch fragen, was sie zu Europa beitragen könnte. «Was die EU wert ist, erleben wir gerade.»
Im Folgenden können Sie ein kleines Medienecho zum Besuch von EU-Kommissar Schmit finden:
Kurz und Kräftig. Die wöchentliche Dosis Aussenpolitik von foraus, der SGA und Caritas. In der Ausgabe Nr. 466, November 2024, steht die Migrationsvereinbarung der EU mit Tunesien im Fokus. Zahlreiche Flüchtlinge sind unmenschlichen Bedingungen und Abschiebungen in Wüstengebiete ausgesetzt, was zu Spannungen auf der geopolitischen Ebene führt. Espresso Nr. 466 | 19.11.2024
Neue Beiträge von Joëlle Kuntz (La neutralité, le monument aux Suisses jamais morts) sowie von Martin Dahinden und Peter Hug (Sicherheitspolitik der Schweiz neu denken - aber wie?)
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Das Schweizer Mandat im UNO-Sicherheitsrat (2023 und 2024) fällt in turbulente Zeiten, der Rat hat Schwierigkeiten, in den grossen Fragen Entscheide zu fällen. Jeden Samstag fassen wir das Ratsgeschehen und die Haltung der Schweiz zusammen.
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