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Die EU und das Erbe des Kolonialismus

Die Europäische Union war im Westen zunächst ein Klub gedemütigter Imperien, später kamen aus dem Osten imperial Gedemütigte hinzu. Die unterschiedlichen historischen Erfahrungen wirken spaltend und erschweren einen offenen Blick auf Afrika.

Die EU stieg nach dem Zweiten Weltkrieg dank günstigen Bedingungen zu einer Handlungsmacht auf. Mittlerweile sieht die Welt ganz anders aus. Die Unberechenbarkeit der amerikanischen Aussenpolitik, Kriege in unmittelbarer Nähe und der grassierende Protektionismus unterminieren, was die EU dereinst stark gemacht hat. Hinzu kommt innerhalb Europas die Machtverschiebung nach Osten. Wie kann die EU unter diesen Voraussetzungen die Migrationsfrage einer Lösung zuführen?

Die DNA der EU bestimmt ihre Handlungsfähigkeit. Wie sieht diese DNA aus? Ernest Gellner hat schon in den achtziger Jahren auf die verschiedenen Nationalismen in Europa hingewiesen. Die Staaten in Ostmitteleuropa waren in Imperien eingebunden, etwa in das Habsburgische, das Russische oder das Osmanische Reich. Als Unterworfene mussten sie sich zuerst aus einer Fremdherrschaft befreien.

Die Idee von Eurafrika

Nicht so die westeuropäischen Staaten: Sie befreiten sich nicht, sondern einigten sich auf die bestehende deutsche, französische oder italienische Hochkultur. Die «neue EU» im Osten sieht deshalb Brüssel auch als Bedrohung, als das neue Wien, Byzanz oder Moskau, und nicht nur als Taktgeber europäischer Einigung. Ein Nukleotid Europas ist auch seine koloniale Vergangenheit. Mit Ausnahme Luxemburgs waren sämtliche Gründungsmitglieder der EWG von 1957 ehemalige Kolonialmächte. Die «alte EU» im Westen ist ein «Klub der gedemütigten Imperien».

Seit dem Römischen Reich gibt es die Vorstellung, dass Europa und Afrika eine Einheit bildeten. Afrika ist jung und wächst, Europa aber altert und schrumpft. Die kolonialistische Variante dieses Eurafrika sieht vor, dass die Europäer den Afrikanern eine wirtschaftliche und politische Komplementarität verordnen. Dies geschah exemplarisch an der Berliner Kongo-Konferenz von1884/85, als Afrika unter den imperialistischen Grossmächten aufgeteilt wurde. Nach dem Ersten Weltkrieg entwarfen Publizisten, Militärs und Wirtschaftsführer unterschiedlichster politischer Provenienz die abenteuerlichsten Vorstellungen Eurafrikas, die auch von Mussolini und Hitler aufgenommen und rassistisch überhöht wurden. Osteuropäer waren an diesem Diskurs nicht beteiligt, mit einer Ausnahme.

Für die paneuropäische Bewegung des österreichischen Grafen Coudenhove-Kalergi in der Zwischenkriegszeit waren die afrikanischen Kolonien nicht nur ein Selbstbedienungsladen für Rohstoffe. Paneuropa gab Eurafrika auch eine entwicklungspolitische Perspektive. Dank Jean Monnet, der die Modernisierung Frankreichs ab dem Ersten Welt krieg vorantrieb, fand dieses Konzept mit dem Schuman-Plan in den fünfziger Jahren erstmals Aufnahme in die Realpolitik. Die Montanunion sah in der Entwicklung Afrikas eine ihrer «wesentlichsten Aufgaben». Unterstützt wurde dieses Konzept von den Arbeitgeberverbänden, aber auch von den späteren Staatschefs von Senegal und Côte d’Ivoire.

Nach der Suez-Krise von 1956 machte Frankreich den Einbezug seiner Kolonien in Afrika zur Bedingung für den Beitritt zur EWG. Hätten Deutschland, Italien und die Benelux-Staaten die Kröte nicht geschluckt, Zollpräferenzen für die «französischen Überseegebiete», wie sie jetzt genannt wurden, zuzulassen, aber dort auch Spitäler, Staudämme und Schulen mitzufinanzieren, gäbe es die EU in der heutigen Form nicht. Später schloss die EWG mit den unabhängig gewordenen Staaten Afrikas, der Karibik und des Pazifiks entwicklungs- und handelspolitische Abkommen.

 

Dieses Eurafrika wird seither laufend ausgebaut, etwa mit neuen Assoziierungsabkommen oder mit dem Migrations- und Asylpakt vom Mai 2024.Die historischen Abhängigkeiten, Machtsymmetrien, ökonomischen Ungleichheiten und europäischen Eigeninteressen sind aber zu stark, als dass man von einer gleichberechtigten Partnerschaft sprechen könnte. Die EU hat immer noch eine helle und eine dunkle Seite. Freiheit, Menschenrechte und Demokratie innerhalb, ausserhalb aber Überlegenheitsdenken, Ausbeutung und Unterdrückung. Ja, die «Kolonien» sind in Form von Parallelgesellschaften, unsicheren Migranten-Ghettos und arbeitssuchenden Sans-Papiers auch intra muros zum Teil zu Kolonialbedingungen die dunkle Seite Europas in dessen Mitte.

Vitales Interesse

Mit der Assoziierung Afrikas ist die EU für solche Zustände mitverantwortlich. Das gilt auch für die «neue EU». Die ostmitteleuropäischen Staaten sind dem «Klub der gedemütigten Imperien» freiwillig beigetreten. Angesichts der heutigen Weltlage dürfte es für die EU von vitalem Interesse sein, die afrikanischen Staaten als gleichberechtigte Partner zu sehen. Nur so kann Afrika stärker in die Pflicht genommen und möglicherweise auch der Ost-West-Gegensatz im Inneren entschärft werden. Was ist zu tun?

Eurafrika hat in einem gewissen Sinn erst die Voraussetzungen geschaffen, dass oft gut ausgebildete und für unseren Arbeitsmarkt interessante junge Menschen in Nordafrika in ein Boot nach Europa steigen. Auch wegen Zollpräferenzen und der Entwicklungszusammenarbeit ist die EU zum Zufluchtsort für diejenigen in Afrika geworden, denen zum Teil unfähige Regierungen die Hoffnung auf ein besseres Leben zerstören. Verständlicherweise versuchen diese Menschen ihr Glück in Europa. Wo denn sonst? Allerdings sind es zu viele geworden. Der Rückzug Frankreichs aus dem Sahel und der Klimawandel begünstigen diese Flucht und Wanderungsbewegungen noch. Russland hat das entstandene Machtvakuum längst gefüllt. Das zynische Spiel mit Flüchtlingen gehört dabei zum Repertoire der russischen Kriegsführung.

Genauso zynisch wäre es aber, wenn die «neue EU» mit Eurafrika nichts zu tun haben wollte. Auch sie dürfte daran interessiert sein, Afrika nicht den Russen zu überlassen und die Verteidigungsfähigkeit der EU hochzufahren. Zudem leidet Osteuropa unter Abwanderung sowie unter Fachkräftemangel. Ausserdem müsste wegen des russischen Imperialismus und Chinas Hunger nach afrikanischem Getreide und seltenen Erden eigentlich die Einsicht wachsen, dass die historischen Bande der EU mit Afrika gestärkt werden müssten. Afrika ist jung und wächst, die EU altert und schrumpft. Afrika wird in 25 Jahren eine fünfmal so grosse Bevölkerung haben wie die EU.

Bedingungen der Assoziation

Afrika könnte die Zukunft gehören. Noch ist die EU bei Aussenhandel, Investitionen und Entwicklungszusammenarbeit weit vor China und den USA die mit Abstand wichtigste Partnerin Afrikas. Diese Position ist unbedingt zu halten. Und die Migration wird nicht gebremst, wenn China immer mehr Ackerflächen unter seine Kontrolle bringt und Rohstoffe vor den Augen einer darbenden Bevölkerung ins Reich der Mitte hinausschafft. Aber Afrika besteht nicht nur aus Hunger, sinnlosen Kriegen, Despoten und wilden Tieren. Bis 2050 werden 500 Millionen Afrikaner vom Land in die Stadt ziehen. Zwischen Lagos und Abidjan entsteht auf einer Länge von eintausend Kilometern gerade die grösste urbane Zone der Welt. Zur Erinnerung: Der König von Mali war Mitte des 14. Jahrhunderts dank weitreichenden Handelsbeziehungen der reichste Mensch auf diesem Planeten.

Es wäre fatal, Afrikas Potenzial Russland und China zu überlassen. Eine wichtige Rolle dürfte dabei schliesslich spielen, ob es der EU gelingt, die Assoziierung stärker mit der Migrationspolitik zu verknüpfen. Herkunftsstaaten abgewiesener asylsuchender Menschen, mit denen Rückübernahmeabkommen geschlossen werden konnten, sollten bei der Assoziierung bevorzugt werden. Umgekehrt sollten Staaten, welche sich weigern, solche Asylsuchende zurückzunehmen, aus Eurafrika ausgeschlossen werden. Denkbar wäre auch eine gegenseitige Schutzklausel: Die EU bekäme die Möglichkeit, in bestimmten Fällen die Zuwanderung zu beschränken, müsste aber die afrikanischen Staaten für die Kosten entschädigen, die sie hatten, um die bei uns gefragten Fachkräfte auszubilden. Vielleicht wären dies Anreize für eine bessere Regierungsführung und mehr Stabilität, diesseits und jenseits des Mittelmeers. Das geopolitische Ziel der EU muss sein, dass alle in Eurafrika die Chance auf ein menschenwürdiges Leben in Freiheit, Sicherheit und Wohlstand haben.

 

 

#Europa

Autor

Dr. Thomas Moser ist Beauftragter des Regierungsrats des Kantons Bern für Aussenbeziehungen und Mitglied des Vorstands der SGA-ASPE. Der vorliegende Artikel ist als  erstes in der Neuen Zürcher Zeitung (Ausgabe 24. Oktober 2024) erschienen.

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