Lesetipp

Die EU – Erfindung des Transnationalen

Gret Haller arbeitet in einem Buch heraus, was die Europäische Union als solche zusammenhält: das Recht, die Demokratie, gemeinsame Grundwerte und eine Verbindung von Institutionen, die das Nationale überwindet, ohne auf einen analogen Staat auf höherer Ebene hinauszulaufen.

Die europäische Integration ist etwas historisch Neuartiges. Die Schwierigkeit, ein angemessenes Verständnis dafür zu finden, zeigt sich in der Schweiz in Meinungen, vertiefte Beziehungen seien in ähnlicher Form wie mit Staaten möglich. Innerhalb der EU herrschen Spannungen und Debatten um deren Stellung und Entwicklung. Klärend wirken kann nun eine Studie von Gret Haller: «Europas eigener Weg». Als ehemalige SP-Politikerin und Diplomatin, als Wissenschafterin und Publizistin bringt die Autorin, Ehrenpräsidentin der SGA, verschiedene Erfahrungen und Sichtweisen mit; im Buch konzentriert sie sich auf grundsätzliche Überlegungen politisch-rechtlicher und auch historisch-anthropologischer Art.

Doppelte Bürgerschaft

In dem, was heute die EU ist, haben erstmals Staaten freiwillig auf einen Teil ihrer unmittelbaren Souveränität verzichtet und eine Struktur geschaffen, die den intergouvernementalen mit dem supranationalen Ansatz kombiniert. Für die innere Verbindung kommt, wie Haller hervorhebt, der 1992 formell etablierten Unionsbürgerschaft eine Schlüsselrolle zu. Nachdem die wirtschaftliche Integration zuerst den Marktbürger mit einklagbaren Rechtsansprüchen, eine Art Bourgeois, hervorgebracht hatte, kam namentlich durch die Direktwahl des Parlaments ab 1979 der politisch mitbestimmende Citoyen hinzu, der diesen Strang der demokratischen Legitimation verstärkt – der andere, indirekte Strang führt über die staatlichen Regierungen, die ihrerseits im Rat und den Ministerräten an der europäischen Rechtsetzung beteiligt sind.

Wichtig scheint, die EU nicht auf der Achse Staatenbund – Bundesstaat zu situieren und keine Entwicklung zu einem europäischen Volk zu erwarten. Die Autorin steht der Nation grundsätzlich sehr kritisch gegenüber. Sie anerkennt zwar als historische Funktion des Nationalstaats, dass er die Menschen von traditionellen, engen Gemeinschaften wie Familie und Dorf gelöst und neu beheimatet habe. Dabei habe sich die Zeitperspektive von der Bewahrung der Herkunft zur gemeinsamen Gestaltung der Zukunft gewendet. Die Vorstellung von einer Einheitlichkeit, letztlich von einer Verschmelzung der Individuen, führe jedoch zu Abgrenzungen, ja zu Aggressivität im Innern (gegen Minderheiten und «Illoyale») und nach aussen (zur Arrondierung des Territoriums).

Annehmen des Andersseins

Der Suche nach Homogenität stellt Haller eine paradoxe These entgegen: «Distanz als Voraussetzung politischer Verständigung». Entsprechend dem Gesellschaftsethos (statt Gemeinschaftsethos) gelte es, den Andersartigen, «Fremden» als Mitbürger im Staat und ebenso in der Union zu respektieren und sich im Vertrauen auf Gegenseitigkeit mit ihm politisch auseinanderzusetzen. Die Basis bilden auf beiden Ebenen die Grundwerte, wie sie der EU-Vertrag verpflichtend festhält: Rechtsstaatlichkeit und Demokratie, Menschenwürde, Freiheit, Gleichheit und Menschenrechte. In der Konsequenz wünscht sich Haller kein emotionalisierendes Narrativ, kein übersteigertes Wir-Gefühl auf europäischer Ebene, sondern umgekehrt, dass das Modell der Union – Zusammenhalt durch Recht und Politik – auf die National- oder nun eben Mitgliedstaaten zurückwirke. Es sei auch deren jeweilige Verfassungsidentität (und keine kulturelle Identität), die von der EU gemäss Vertrag geschützt werde. Die Bürgerschaft individualisiere sich, ohne dass die Menschen ihre politische Zugehörigkeit verlören.

Das «hybride» politische System erscheint in dieser Sicht als Stärke. Es verbindet gemeinschaftliche, intergouvernementale und demokratische Methoden, verkörpert durch Kommission, Räte und Parlament. Es ist für Haller vielleicht sogar «der Kern der Friedenssicherung in Europa». Die ganze institutionelle Ordnung verlange eine Praxis der Konkordanz und von den Akteuren ein Minimum an Kollegialität. Hier geht es um «politische Kultur» im «weichen» Sinn, während der im Untertitel des Buchs stehende Begriff sonst vor allem die Strukturen, Kompetenzen und Verfahren meint. Insgesamt machen die Verschränkungen und grundwertebezogenen Wechselwirkungen zwischen den Ebenen wie auch den Mitgliedstaaten die EU zu einem transnationalen Gemeinwesen eigener Art.

Keine fixe Finalität

Ist nun dieses System auch tauglich für die Zukunft, speziell für eine sich weiter vergrössernde Union? Gret Haller wendet sich, nicht überraschend, gegen die rechtspopulistische Fundamentalopposition, die in der Tendenz eine gewöhnliche Organisation von Nationalstaaten anstrebt. Einer «Machtübernahme» durch diese Kräfte stünde übrigens die polyzentrische Entscheidungsstruktur im Weg. Für eine demgegenüber angestrebte Weiterentwicklung der EU könne keine Finalität bestimmt werden, schreibt die Autorin. Zu konkreten Schritten, etwa zu einer Einschränkung des Einstimmigkeitsprinzips, äussert sie sich nicht. Während sie wirtschaftliche Faktoren der Integration weitgehend ausklammert, streift sie einen Aspekt europäischer Kultur, indem sie bedauert, dass die Dominanz des Englischen besonders die Wahrnehmung der unterschiedlichen politischen Kulturen erschwere. Ist nun die Schwierigkeit, mit 24 Amtssprachen umzugehen, nicht als Hinweis zu nehmen, dass die strenge Formel «Distanz als Voraussetzung politischer Verständigung» ihre Grenzen hat?

Eine weitere Frage führt über das bisherige Thema hinaus: Wie verändert die Aussen- und damit wohl Machtpolitik den Charakter der EU? Die Notwendigkeit einer verstärkten Zusammenarbeit in der Verteidigung unter Einbezug Grossbritanniens verlange neue Formen der Kräftebündelung und fordere den «europäischen Innovationsgeist» neu heraus, lautet der Schluss von Gret Hallers gedankenreichem Buch. Ihr durchwegs spürbares Vertrauen beeindruckt.

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Gret Haller: Europas eigener Weg. Die politische Kultur in der Europäischen Union. Rotpunktverlag, Zürich 2024. 191 S., Fr. 28.-.

Vernissage am 29. Mai, 18.15 Uhr, an der Universität Zürich, Gebäude Rämistrasse 59, mit Matthias Oesch, Markus Notter und Markus Mugglin.

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