Kolumne

COVID-19: Gelebte Europäische Solidarität

Die Corona-Pandemie eignet sich nicht als Vorwand für nationale Abschottung. Das gilt auch für die Schweiz in ihren Beziehungen zur Europäischen Union und zu Entwicklungsländern. Notrecht darf auch nicht Vorwand sein, um völkerrechtliche Verpflichtungen in der Asylpolitik zu missachten.

In der Nacht zum Karfreitag haben die Finanzminister der EU-Mitgliedstaaten zuhanden des Rates am 9. April 2020 ein Corona Hilfspaket für hart betroffene Mitglieder der Union im Umfang von über 500 Mia € beschlossen. Die Voraussetzung ist damit geschaffen, dass die Union eine ihre wichtigsten komplementären Aufgaben in der Bekämpfung und Abfederung der Pandemie in Europa wahrnehmen kann. Neben der Sicherung des Binnenmarktes und zusammen mit bereits bestehenden Mitteln im Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) und in weiteren Instrumenten, einschliesslich Programmen der Europäischen Zentralbank und der Europäischen Investitionsbank, kann die Union nationalstaatlich getroffenen Massnahmen wirksam absichern und unterstützen und Stabilität herstellen.

Im Vorfeld hatte sich die European League of Economic Cooperation (ELEC)1, der auch die Vereinigung La Suisse en Europe angehört, für eine verstärkte europäische Zusammenarbeit in der Bekämpfung von Corona und künftigen Pandemien eingesetzt. Sie verlangte neben einem finanziellen Hilfspaket und angemessenen Eurobonds zur Beruhigung der Märkte auch eine verstärkte gegenseitige Unterstützung und Verteilung der Kosten für die Behandlung von PatientInnen und der Vorsorge unter den Mitgliedstaaten. Die Erklärung ist von der Überzeugung getragen, dass die Krise nur gemeinsam durch komplementäre und koordinierte Massnahmen auf allen Regierungsebenen, von Kommunen, Städten, Gliedstaaten, Nationalstaaten der Union aber auch globalen Institutionen bewältigt werden kann. Es geht nicht darum, europäische Souveränität gegen eine nationale Souveränität auszuspielen. Nicht gegeneinander, sondern miteinander muss die Devise lauten. Der Kompromiss der EU-Finanzminister ist hier ein Durchbruch und Lichtblick.

Zusammenarbeit statt Grenzzäune
Und die Schweiz? Seit kurzem wird sie in die Krisenarbeit der EU-Kommission einbezogen. Sie hat Zugang zu Daten und Debatten und kann sich einbringen. Sie nahm erfreulicherweise PatientInnen aus der Nachbarschaft auf. Die Repatriierung von zahlreichen SchweizerInnen aus Uebersee durch das EDA gelang dank einer engen Zusammenarbeit mit der Europäischen Union. Das kontrastiert mit den hilflosen und traurigen Grenzzäunen auf nationaler Ebene im In- und Ausland, die den Virus nicht wirksam aufhalten,  aber Familien in den Grenzgebieten trennen und die Versorgung durch langwierige Grenzkontrollen verzögern und gefährden. Sie vermitteln politisch motiviert ein falsches Gefühl der Sicherheit und sind Ausdruck einer hier fatalen Auffassung, dass man allein am stärksten sei. Selbst im Inland ist man davon nicht gefeit, wie unkoordinierte Alleingänge der Kantone belegen.

Erforderlich ist vielmehr ein Verständnis, dass jede Ebene der Gouvernanz – von Gemeinden, Städten über Kantone, Bund, Europäische Union und globale Institutionen wie die WHO und WTO – ihren Beitrag aufeinander abgestimmt in der Bewältigung der Krise leisten müssen. Dabei sind alle Ebenen der  Gouvernanz gleichen und vergleichbaren verfassungsrechtlichen Zielen verpflichtet: Die Bekämpfung der Pandemie, die Rettung von Leben, die Wahrung menschlicher Würde auch anderweitig Kranker, aber ebenso die Sicherstellung der Versorgung mit lebenswichtigen Gütern, das Recht auf Bildung und Chancengleichheit von Kindern und Jugendlichen, die Gleichbehandlung der Gewerbegenossen und der Kampf gegen die wirtschaftliche Rezession. Alle Massnahmen sind an den Grundsatz der Verhältnismässigkeit gebunden.

Aus Eigeninteresse anderen Ländern beistehen
Die Schweiz muss sich aus dieser Sicht angemessen auch an den Programmen der Union beteiligen. Sie muss einen finanziellen Beitrag an die Hilfsprogramme für unsere hart betroffenen europäischen Nachbarn leisten, auch aus eigenen Interessen als Beitrag zur regionalen Stabilität in Europa. Die Abgleichung von Spitalbetten und Behandlungsmöglichkeiten und ihren Kosten muss nicht nur im Inland, sondern auch mit den Nachbarn an die Hand genommen werden in Hinblick auf eine mögliche zweite Welle. Frankreich hat die Möglichkeit dezentraler Behandlung und Verteilung gemäss vorhandenen Kapazitäten vorgelebt. Daran ist anzuknüpfen.

Notrecht setzt die Wahrnehmung anderer Verfassungsaufträge und völkerrechtlicher Verpflichtungen nicht aus. Das gilt vor allem auch für Bereiche, die heute mit einer auf die Krise konzentrierten introvertierten Öffentlichkeit medial unter den Tisch zu fallen drohen: die Verzögerung der versprochenen Aufnahme jugendlicher Flüchtlinge aus katastrophalen von Corona bedrohten griechischen Camps, oder ausgerechnet heute die Vornahme von Ausschaffungen von abgewiesenen Asylbewerbern, die gegen das Prinzip des Non-Refoulement verstossen. Wir müssen uns vielmehr darauf vorbereiten, wie das Engagement der Schweiz gegenüber finanziell schwächeren Staaten in der Dritten Welt in der Corona-Bekämpfung verstärkt werden kann. Welche Rolle will und kann die Schweiz als Depositarstaat der Genfer Konventionen und als Sitzstaat der WHO spielen? Die Pandemie eignet sich nicht als Vorwand für die nationale Abschottung, wie sie die gegenwärtige US-Regierung erfolglos praktiziert. Die europäische Ebene wie auch die globale Ebene bilden nicht nur in den Mitgliedstaaten der EU, sondern auch für die Schweiz ein dazu wichtiges Gegengewicht.

*Thomas Cottier, Präsident der Vereinigung Die Schweiz in Europa / La Suisse en Europe (ASE)

1) Die ELEC-Stellungnahme „Große Solidarität und Koordination gefordert um EU-Bürger und das EU-Projekt zu retten» in Deutsch und Französisch

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