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Brasilien 1969-1979: Diktatur als Wirtschaftspartner

Zur Zeit des Militärregimes bot Brasilien der Schweizer Wirtschaft verlockende Möglichkeiten für Exporte, Kredite und Direktinvestitionen. In einer Publikation des Forschungszentrums Diplomatische Dokumente der Schweiz wird diese Expansion genauer beleuchtet und als Beitrag zur Stützung der Diktatur kritisch beurteilt.

Das Thema der Studie von Gabriella Lima tönt akademisch-speziell: Die wirtschaftlichen Interessen der Schweiz in Brasilien während der Militärdiktatur 1969-1979. Es geht dabei aber um ein Phänomen und eine Grundsatzfrage, denen man immer wieder begegnet – sei es im Fall von Südafrika zu Zeiten der Apartheid, von Iran unter dem Schah oder des heutigen China. Aufstrebende Länder mit einem aussenwirtschaftlich offenen, im Innern aber repressiven Regime scheinen für Handel und Investitionen besonders attraktiv zu sein. Ist es legitim und weitsichtig, dass Unternehmen aus Ländern wie der Schweiz solche Chancen nutzen? Und welche Rolle kommt den politischen Behörden dabei zu?

Beteiligung am «Wirtschaftswunder»

Die brasilianischen Regierungen, die nach dem Militärputsch von 1964 im Amt waren, trieben die Industrialisierung und den Ausbau von Infrastrukturen kräftig voran. Ausländische Investitionen waren willkommen, Zollsenkungen erleichterten Importe, und Lohnkontrollen wie auch die Unterdrückung von Streiks schufen  günstige Standortbedingungen für die Produktion, nebst sozialen Spannungen. Am «brasilianischen Wirtschaftswunder» der Jahre 1967 bis 1973 waren ökonomisch starke westliche Länder unter Führung der USA rege beteiligt. Die Schweizer Ausfuhren stiegen real um 140 Prozent, die Tochterfirmen von Unternehmen vermehrten und vergrösserten sich, Banken gaben sowohl den Exporteuren als auch den oft staatlichen Käufern Kredite.

Die Krise nach dem Ölpreisschock von 1973 machte Brasilien noch mehr zu einem Wirtschaftsraum, in dem sich die im Inland und in Europa eingetretenen Einbussen oder Sättigungserscheinungen kompensieren liessen. Die Exporte blieben noch einige Jahre hoch, gingen dann aber zurück, während die Direktinvestitionen, vor allem in Form von Beteiligungen, stark zunahmen, so dass die Schweiz mit ihrem Bestand 1978 den dritten Rang erreichte. Dies entsprach der ab 1975 verfolgten Politik Brasilias, Importe möglichst durch inländische Produktion zu substituieren. Dazu dienten bestimmte Einfuhrverbote, aber auch die Aufhebung der Steuer auf Dividendentransfers.

Politisch blind?

Das brasilianische Regime hatte trotz seiner wirtschaftlich modernen Seite einen Unterdrückungscharakter, zu dem auch systematische Folter gehörte. Es erhoben sich Widerstand im Innern und Kritik auch im Ausland. Als eine Stadtguerilla 1970 nach anderen westlichen Diplomaten den Schweizer Botschafter Enrico Bucher entführte, erhielt das Thema zusätzliche Publizität. Die Handelskammer Schweiz – Brasilien organisierte darauf zusammen mit einem HSG-Institut eine Tagung in Zürich, um die bilateralen Beziehungen wieder zu verbessern und «l’image déformée» des Landes zu korrigieren. Brasilien verdiene «tout notre appui et notre solidarité», sagte dort beispielsweise ein Bankenvertreter. Die Autorin Lima spricht von einer – verdeckten – «vraie proximité idéologique entre les élites suisses et les technocrates de la Junte brésilienne». Sie weist auch auf konkrete Verstrickungen hin, zum Beispiel auf schwere Menschenrechtsverletzungen beim Bau des riesigen Itaipú-Kraftwerks, an dem der Elektrokonzern BBC (heute ABB) und die Grossbanken beteiligt waren. Der unabhängig von jenem Fall erhobene Vorwurf, BBC habe aktiv mit dem Repressionsapparat kooperiert, bleibt letztlich ungeklärt. Ausserdem bestand der Verdacht von Absprachen unter den internationalen Stromunternehmen zum Nachteil Brasiliens.

Wie verhielt sich die offizielle Schweiz? Eine Äusserung aus dem Wirtschaftsdepartement von 1970 zeugt von Faszination durch die Chancen nach der «Stabilisierung» in Brasilien. Man neigte dazu, in der Wahrnehmung des Landes die Wirtschaft weitgehend von der Politik abzuspalten – und zu Letzterer zu schweigen. In Handelsfragen wiederum hielt man sich mit direkten staatlichen Interventionen zurück, zumal die Schweiz wegen relativ geringer Importe aus Brasilien in einer schwachen Verhandlungsposition war. Der Bund stellte die Exportrisikogarantie zur Verfügung, agierte im Gatt für Freihandel und trat der Interamerikanischen Entwicklungsbank bei, die der Wirtschaft Zugang zu neuen Geschäften gab. Eine grosse Ausstellung, die die Zentrale für Handelsförderung 1973 in São Paulo veranstaltete, wurde von alt Bundesrat Hans Schaffner eröffnet. Dessen Präsenz signalisierte nach Lima die starke Gewichtung dieser Beziehungen, könnte aber auch eine Verlegenheitslösung gewesen sein. Der Schweizer Botschafter erinnerte noch Jahre später daran, dass das Fehlen des amtierenden Wirtschaftsministers Ernst Brugger) beim Gastgeber «eine gewisse Enttäuschung» ausgelöst hatte.

Zwischen Entwicklung und Imperialismus

Gabriella Lima tendiert dazu, die Dinge stets im Sinn ihrer These zu interpretieren, wonach die Schweiz die Diktatur zumindest indirekt legitimierte und stärkte. Zu Recht kritisiert sie Verbrämungen der Wirtschaftsaktivitäten als (uneigennützige) Hilfe. Doch wenn sie einen «impérialisme suisse», und zwar «l’un des plus agressifs», ausmachen will, wird eine differenzierte Beurteilung ebenfalls erschwert. Es fällt der Autorin nicht auf, dass sie das Gewicht der schweizerischen Investitionen in der brasilianischen Wirtschaft und damit deren Abhängigkeit absurd hoch angibt, da sie beim Berechnen des Verhältnisses Milliarden und Millionen durcheinanderbringt. Was sie sonst an Fakten aufgearbeitet hat, ist bemerkenswert genug.

Brasiliens Wachstumsmodell stiess übrigens bald an eigene Grenzen. Wegen gravierender Überschuldung und Inflation geriet das Land Anfang der 1980er Jahre in eine Krise, die wiederum ein Faktor der Rückkehr zur Demokratie werden sollte.

Gabriella Lima: «Don’t Miss the Bus!». Les intérêts économiques suisses au Brésil durant la dictature militaire 1969-1979. Quaderni di Dodis, Bern 2024. 160 S. Bestellung und Gratis-Download: dodis.ch

 

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