Kolumne

SGA-ASPE zu Bilateralen: Nächster Urnengang dringend

Der am 9. Februar 2014 angenommene «Masseneinwanderung»-Artikel 121a BV muss innerhalb von drei Jahren umgesetzt werden. Zweieinhalb Jahre sind nun vergangen, und immer noch stochern die Akteure im Nebel.

Weder ist eine Einigung mit Brüssel in Sicht, noch zeichnet sich eine von den massgeblichen politischen Kräften getragene gemeinsame Strategie ab. Die einen scheinen zu hoffen, die EU werde unser Problem lösen, indem sie für eine Aufweichung des Prinzips der Personenfreizügigkeit Hand biete. Man müsse bloss selbstbewusst verhandeln, heisst es, und überhaupt zwinge der Brexit die Union, die vierte Freiheit des Binnenmarkts einzuschränken. Andere suchen nach einer Schlaumeierei, um den Widerspruch zwischen Kontingentierung und Freizügigkeit zum Verschwinden zu bringen. Inländervorrang oder einseitige Schutzklausel heissen die angeblichen Wundermittel. Wiederum andere möchten das Geschehene ungeschehen machen. Die Rasa-Initiative verlangt bündig, Artikel 121 a BV zu streichen.

Im Fokus der Gespräche mit der EU steht Artikel 14 Absatz 2 des Freizügigkeitsabkommens, der es den Vertragsparteien gestattet, «bei schwerwiegenden wirtschaftlichen oder sozialen Problemen» an den Gemischten Ausschuss zu gelangen und Abhilfemassnahmen vorzuschlagen. Liegt ein solcher Anwendungsfall vor? Könnte er allenfalls vorübergehend für einzelne Regionen oder Branchen geltend gemacht werden? Parallel zu den Verhandlungen bereitet das Parlament die Anpassung des Ausländergesetzes an den neuen Verfassungsartikel vor. Wird diese Revision, wenn sie am Grundsatz der Personenfreizügigkeit festhält, ein allfälliges Referendum überstehen?

Die Stimmen mehren sich, beides greife zu kurz, es gehe nicht ohne erneuten Eingriff in die Bundesverfassung. An Vorschlägen fehlt es nicht. Diese zielen allerdings in alle Himmelsrichtungen. Von einem Konsens unter den politischen Hauptakteuren sind wir weit entfernt. Dabei läuft uns, während Parteien und Parlamentskommissionen noch an Hilfs- und Ersatzkonstruktionen herumlaborieren, die Zeit davon. Es versteht sich, dass man während laufenden Verhandlungen (auch wenn sie nur «Gespräche» heissen) nicht gerne über Optionen für den Fall ihres Scheiterns debattiert. Darüber nachzudenken, ist jedoch unaufschiebbar.

Die SGA-ASPE bleibt bei dem, was sie im Vernehmlassungsverfahren erklärt hat: Der Schweizer Souverän hat Unvereinbares beschlossen. Einerseits hat er – und dies mehrfach – die Beteiligung am europäischen Binnenmarkt und die damit verbundene Personenfreizügigkeit mit deutlichen Mehrheiten gutgeheissen. Andererseits hat er der Steuerung der Migration mittels Höchstzahlen und Kontingenten zugestimmt. Diesen Widerspruch kann nur derselbe Souverän an der Urne beseitigen. Zu diesem Schluss führt auch der Entscheid des Bundesgerichts, das Freizügigkeitsabkommen gehe im Konfliktfall späteren innerstaatlichen Regelungen vor. Die Frage ist daher bloss noch, wann über welche Formulierung abgestimmt wird.

Artikel 121a BV ersetzen, modifizieren oder ersetzen?
Die Frage, um die es im Kern geht, ist stets dieselbe: Will die Schweiz den nach 1992 eingeschlagenen «bilateralen Weg» im Verhältnis zur EU weitergehen oder nicht. Offen ist, wie die konsequenzenreiche Weichenstellung herbeigeführt wird. Logisch gibt es drei Möglichkeiten: Man kann den mit den Prinzipien des europäischen Binnenmarkts unvereinbaren Artikel 121a BV entweder aufheben, modifizieren oder ersetzen.

Anders liegen die Dinge, wenn man das bilaterale Verhältnis mit der Union gar nicht weiterführen will. SVP-Exponenten sprechen neuerdings davon, per Verfassungsinitiative eine Kündigung des Freizügigkeitsabkommens und damit der Bilateralen I zur Abstimmung zu bringen. Der Vorschlag ist insofern zu begrüssen, als er ohne Umschweife zur Sache kommt. Wer den nach dem EWR-Nein eingeschlagenen Weg verlassen will, steht allerdings in der Pflicht, eine glaubwürdige und mutmasslich mehrheitsfähige Alternative aufzuzeigen.

Für die eidgenössischen Räte kommt die Stunde der Wahrheit sofort nach der Sommerpause. Alle Kräfte, denen an funktionierenden Beziehungen zu unserem mit Abstand wichtigsten Partner gelegen ist, werden sich rasch auf einen gemeinsamen Lösungsansatz verständigen müssen. Dieser muss nicht nur verfassungsrechtlich hieb- und stichfest sein, sondern zugleich aussenpolitisch realistisch und innenpolitisch erfolgversprechend.

Ob der nächste Urnengang in dieser Sache eine Referendumsabstimmung sein wird oder einen Eingriff in die Bundesverfassung betrifft: Es wird das Zusammenstehen aller konstruktiven Kräfte brauchen, soll es nicht in einem Scherbenhaufen enden. Und es wird Zeit brauchen, eine Konsenslösung dem Stimmvolk zu vermitteln. Es gilt also, keine Zeit mehr zu verlieren.

#Europa #Schweiz-EU #Selbstbestimmung #Souveränität

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