Editorial

Aussenpolitische Verantwortung nach den Terroranschlägen

Nach den Terroranschlägen in Paris und der überwältigenden Solidaritätskundgebung für Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit muss sich auch die Schweiz fragen, wie sie es mit dieser nationenübergreifenden Identität hält. Sie sollte sich fragen, ob sie am Minarett-Verbot festhalten will. Denn es macht glauben, alle Muslime seien gefährlich.

Die Terroristen in den Redaktionsräumen der Satirezeitschrift Charlie Hébdo und im koscheren Lebensmittelladen in Paris haben behauptet, den Propheten Mohammed zu rächen. Schon bald darauf starteten die Versuche, die entsetzlichen Morde für islamfeindliche Parolen zu instrumentalisieren. Das neue Jahr hat schrecklich angefangen. Aber dann am darauf folgenden Sonntag der überwältigende Eindruck der Solidaritätskundgebung mit der Präsenz zahlreicher Staats- und Regierungschefs, in vorderster Reihe mit dabei auch Bundespräsidentin Sommaruga. Europa stand geschlossen hinter seinen Werten Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, welche in der Französischen Revolution ihren Anfang genommen und denen die Terroranschläge letztlich gegolten haben.

Heute sind diese Werte zur Grundlage einer nationenübergreifenden europäischen Identität geworden. Sie beinhalten die politische Verantwortung, ihre Bedeutung immer wieder im Lichte der aktuellen Geschehnisse zu sehen und umzusetzen. Deshalb richten sich nun viele Solidaritätskundgebungen auch gegen die Ausgrenzung ganzer Religionsgemeinschaften. Es besteht vor allem die Gefahr der Gleichsetzung von Islamisten mit allen Muslimen. Seit Wochen veranstaltet eine Bewegung in Dresden, die sich «Pegida / Patrioten Europas gegen die Islamisierung des Abendlandes» nennt, Demonstrationen mit fremdenfeindlichem und nationalistischem Hintergrund, auch wenn dies nicht immer offen zu Tage tritt. Gegendemonstrationen, denen sich vor allem seit den Terroranschlägen in Paris immer mehr Personen anschliessen, sind Teil der Wahrnehmung dieser politischen Verantwortung, die aus den europäischen Grundwerten hervorgeht.

Angesichts der unter tragischen Umständen wieder neu beschworenen nationenübergreifenden Identität von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, muss sich jedes Land in Europa fragen, was es zu dieser Identität beiträgt. Oder was es für Signale aussendet, welche einer solchen Identität entgegenstehen. Das Minarett-Verbot, nun seit bald fünf Jahren in der Bundesverfassung, sendet problematische Signale aus. Es will glauben machen, der Islam und damit alle Muslime seien gefährlich, so dass sich die Schweiz vor ihnen schützen müsse. Mit wirksamen Mitteln wird sich dieses Land in Zusammenarbeit mit anderen Ländern vor islamistischem Terror zu schützen versuchen. Aber dieser hat nichts zu tun mit unseren muslimischen Mitbewohnern.

Nach den Terroranschlägen von 2015 wird das Minarett-Verbot noch mehr zum Schandfleck. Dies darf und soll offen ausgesprochen werden, auch wenn das Verbot von einer Mehrheit der Stimmenden angenommen worden ist. Politische Verantwortung setzt längst nicht immer bei Mehrheitsmeinungen ein. Umso wichtiger ist es, die offene Diskussion zu solchen Fragen immer wieder aufzunehmen. Will sich die Schweiz wirklich in einem Atemzug mit der «Pegida»-Bewegung in Dresden nennen lassen, welche sich in ihren Positionspapieren offenbar ausdrücklich auf Schweizer Verhältnisse beruft? Ein Verbot kann jederzeit gestrichen werden. Positive Beispiele dafür gibt es durchaus, so die Streichung des Jesuiten- und Klosterverbotes aus der Bundesverfassung am 20. Mai 1973. Die Streichung des Minarett-Verbotes wäre für die Schweiz die glaubwürdigste Art, aussenpolitisch auf die Terroranschläge zu reagieren. Innenpolitisch braucht es dafür eine Volksabstimmung und im Hinblick darauf vor allem eine offene Diskussion.

Zu offenen Diskussionen wird die SGA auch weiterhin Beiträge leisten, nicht zuletzt über ihre Web-Seite, die heute in einer neuen Form erscheint. Die Seite soll nicht nur flexibler und häufiger erneuert werden. Interessierte können auch den neuen SGA-Info-Letter abonnieren, der sie per mail über Neues auf der Seite informiert. Inhaltliche Informationen zum aussenpolitischen Geschehen finden sich nach wie vor im Newsletter «Espresso Diplomatique», den die SGA zusammen mit foraus herausgibt. Und schliesslich «save the date»: Am Montag, 18. Mai 2015, 18.15 Uhr findet in Bern eine öffentliche Veranstaltung der SGA zum Thema «Politische Kultur der Verständigung in der Schweiz und in Europa» statt. Dies im Anschluss an die Generalversammlung der SGA, welche am selben Ort um 16.15 Uhr beginnt.

#Völkerrecht

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