Lesetipp

Asyl als Aufgabe zwischenstaatlicher Politik

Um die Idee des Asyls wieder zu stärken, plädiert Gerald Knaus für Vereinbarungen zwischen Ziel-, Transit- und Herkunftsstaaten. Schutz, Rückführung und reguläre Migration sollten gemeinsam geregelt werden.

Gerald Knaus, Gründer und Leiter der Europäischen Stabilitätsinitiative, eines Think Tanks in Berlin, spielte mit einer Art Privatdiplomatie eine wesentliche Rolle auf dem Weg zum «Deal» zwischen der EU und der Türkei über Flüchtlinge und andere Migranten. Die im März 2016 in groben Zügen vereinbarte Paketlösung umfasste Asylverfahren in Griechenland (wie bisher), Rückführungen in die Türkei, die direkte Aufnahme syrischer Flüchtlinge von dort in Staaten der EU, Massnahmen gegen illegale Grenzübertritte, finanzielle Hilfe für die Versorgung von Flüchtlingen in der Türkei und unter Bedingungen die Aufhebung der Visumspflicht. Die Konstruktion wurde zwar nur zum Teil realisiert, beendete aber zusammen mit der Sperrung der Balkanroute die damalige «Flüchtlingskrise» in Europa. In einem Buch legt Knaus nun dar, wie und weshalb sich das Prinzip dieser Abmachung in ähnlicher Form auch in anderen Situationen bewährt hat und bewähren könnte.

Blick auf legitime Interessen
Dem Autor geht es letztlich darum, die in vielen Staaten gefährdete oder ignorierte Institution des Asyls, die eng mit den Menschenrechten und dem Neubeginn in Europa nach 1945 verbunden sei, zu bewahren, zu stärken und international zu verbreiten. Er fordert indes nicht einfach die nötige Empathie der Bevölkerung, sondern akzeptiert, dass gleichzeitig ein Bedürfnis nach staatlicher Kontrolle des Geschehens zu befriedigen ist. Die irreguläre Migration, die auch mit viel Leid und Todesopfern auf dem Weg, speziell durch die Sahara und über das Mittelmeer, verbunden ist, läuft nun der Absicht, Grenzen zu setzen, permanent entgegen, zumal besonders die abgewiesenen Asylsuchenden aus Afrika nur selten zurückgeführt werden können. Die Kooperationsbereitschaft von Herkunftsstaaten hängt nach Knaus’ Einschätzung stark davon ab, ob ihnen im Gegenzug Erleichterungen für Reisen und allenfalls auch für Arbeitsaufenthalte gewährt werden (Entwicklungszusammenarbeit hält er offenkundig nicht für entscheidend). Und um Erstaufnahme- oder Transitstaaten für zumindest vorläufige Schutzaufgaben in Pflicht nehmen zu können, sei es angebracht, sie durch eine direkte und geregelte Aufnahme von Flüchtlingen zu entlasten.

Erfahrungen mit «Deals»
Der Ansatz ist nicht neu. Knaus beschreibt frühere Beispiele verschiedener Kombinationen der genannten Elemente oder einzelner von ihnen. So profitierten mehr als zwei Millionen Flüchtlinge aus Indochina vom Arrangement, das 1979 an einer Konferenz in Genf getroffen wurde. Involviert waren die westlichen Aufnahmestaaten, als Zwischenstation dienende Länder in Südostasien und das wichtigste Herkunftsland, Vietnam, das die reguläre Ausreise unterstützte und die irreguläre unterband. Australien wechselte ab zwischen Phasen rücksichtsloser Abschliessung und solchen der kontrollierten Zulassung in Kooperation mit Transitstaaten. 2011 vereinbarte die Regierung mit Malaysia gewissermassen eine Auslagerung des Asylverfahrens dorthin, auch um gefährliche Bootsfahrten zu verhindern, scheiterte aber an einem Urteil des obersten Gerichts. Deutschland öffnete 2015/16 seinen Arbeitsmarkt für Personen aus dem westlichen Balkan und erteilte zum Beispiel 2018 rund 46’000 Bewilligungen. Die Zahl der Asylgesuche sank in dieser Zeit markant, wobei der kausale Zusammenhang, den Knaus hier wie in anderen Fällen mit Statistiken nahelegt, nicht so eindeutig sein dürfte.

Als Vorschlag skizziert der Autor ein Netz von Vereinbarungen über die Migration durch Marokko in die spanischen Exklaven Ceuta und Melilla, die sich heute mit Zäunen und Gräben nicht vollständig und nicht menschenwürdig abschirmen lassen. Asylsuchende sollten ohne Gefahr in die beiden Städte gelangen können, und dort wäre rasch über ihre Gesuche zu entscheiden. Marokko müsste abgewiesene eigene oder andere Staatsangehörige wieder übernehmen (und, was nicht erwähnt wird, human behandeln). Die EU hätte Marokko Visumserleichterungen zu gewähren und zudem würde eine Gruppe europäischer Staaten Kontingente westafrikanischer Flüchtlinge aufnehmen, die das UNHCR anerkannt hat.

Ein flexibles Modell
Knaus setzt also auf situationsbezogene Koalitionen, die nicht unbedingt die Beteiligung oder Zustimmung aller EU-Staaten benötigen und beispielsweise auch die Schweiz einbeziehen könnten. Generell zielt er pragmatisch auf Lösungen für einzelne Migrationsbewegungen und nicht auf ein universales System. Voraussetzung ist (oder wäre) aber meist, dass wie zur Zeit des Ost-West-Konflikts die Bereitschaft besteht, in einer koordinierten Aktion eine grössere Zahl Schutzbedürftiger freiwillig aufzunehmen und eventuell auch andere Migration zuzulassen. Ohnehin können unerwartete Schwierigkeiten auftreten. So kam es bisher trotz «Deal» nur zu recht wenigen Rückführungen aus Griechenland in die Türkei. Knaus führt dies darauf zurück, dass in Athen die Linke am Schutz in der Türkei zweifle und die Regierung die überfüllten Lager wegen ihrer abschreckenden Wirkung akzeptiere.

Wichtig scheint, dass sich der Blick nicht auf unilateral abwehrende Massnahmen verengt, sondern aussenpolitische Handlungsmöglichkeiten erkannt oder gesucht werden. Gerald Knaus zeigt einerseits solche Perspektiven auf, redet anderseits Klartext über Denkmuster wie jenes, das dem Ruf nach besserem Schutz der Aussengrenzen zugrunde liegt: «Grenzschützer stoppen keine Asylantragsteller» – wenn sie sich korrekt verhalten.

Gerald Knaus: Welche Grenzen brauchen wir? Zwischen Empathie und Angst – Flucht, Migration und die Zukunft von Asyl. Piper, München 2020. 326 S., ca. Fr. 25.-.

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