Lesetipp

Angela Merkels sehr deutsche Memoiren

720 Seiten, das ist lang. Zuweilen etwas zu lang. Angela Merkels Buch liest sich flüssig, der Stil ist tauglich, aber ohne den geringsten literarischen Anspruch. Voll und ganz Merkel. Nicht genial, aber solide. Eine Ode an die Freiheit (so der Titel auf Deutsch und Französisch), sind Angela Merkels Memoiren nicht da, um zu überraschen. Sie sind da, um das Werk einer verantwortungsvollen Politikerin erschallen zu lassen, die mehr als einmal den Titel «einflussreichste Frau der Welt» verdient hat. Als Ikone eines kraftvollen Deutschlands hat sie ihr Land in den Rang einer respektgebietenden und respektierten Nation gehoben. Nach sechzehn Jahren an der Spitze eines selbstsicheren und dominierenden Deutschlands weist die ehemalige Nummer eins nun jegliche Verantwortung für die gegenwärtige Krise ihres Landes von sich. Mehr Vermächtnis als Rede zur Zukunft, wird ihr Buch bleiben, wofür es geschrieben wurde, ein Eintauchen in die ausserordentliche Karriere einer deutschen Frau, welcher durch nichts vorbestimmt war, Geschichte zu schreiben.

Christliche Solidarität

Auch wenn diese Liebeserklärung an die Freiheit nicht viel Originelles an sich hat, stellt sie sich gegen jene, die ihr Werk und ihre Karriere zu schnell vergessen wollen. Am Ende des Jahres 2024 lässt sich ihr Erbe in einem Dreiklang zusammenfassen: Humanismus, Umwelt und Multilateralismus. Duch ein Gefühl christlicher Solidarität beseelt, bleibt Angela Merkel dabei, die Ankunft der Flüchtlinge zu verteidigen, die sie 2015 willkommen geheissen hat. Die Passagen über ihr berühmtes Wort «Wir schaffen das!» sind besonders anrührend und die schönsten Stellen in ihrem Buch. Als Gegenstück zu der harten Dame, als die François Hollande sie karikiert hatte, um Griechenland in der Eurozone zu halten, präsentiert die ehemalige Kanzlerin sich hier mit ihren besten Charakterzügen.

Die Wissenschaft als Kompass

Physikerin von Beruf, hält sie sich stets an die Wissenschaft. Von ihr entfernt sie sich nie, auch wenn sie damit ihre Widersacher vor den Kopf stösst. Den Ausstieg aus der Nuklearenergie nach Fukushima bereut sie nicht, sie plädiert für die Diversifikation der Energiequellen, bleibt aber doppeldeutig, wo es um die Pipelines Nordstream I und II für russische Gaslieferungen geht. Geleitet von der Hauptsorge, die Klimaerwärmung zu bekämpfen, hat Angela Merkel sich entschieden, diesen Kampf zu ihrer ersten Priorität zu machen. Mit nicht eingehaltenen Versprechungen auf dem Glatteis, und gegen die Klima-Skeptiker ist sie nicht bereit, hier lockerzulassen.

Weitsichtiger als ihre politischen Freunde, weiss sie auch, dass die Alterung der Bevölkerung nur durch Einwanderung kompensiert werden wird. Besser positioniert als jeder andere, ermuntert sie Deutschland, Arbeitskräfte im Ausland anzuwerben, um seine demographischen Defizite auszugleichen.

Multilateralismus als raison d’être

Angela Merkel ist deutsch bis in die Fingerspitzen. Ihre Kultur und ihre Bildung bezeugen es. Dennoch lässt sie im Rückblick auf ihre vier Mandate die Innenpolitik beiseite. Sie berührt sie relativ wenig, selbst dann, als sie ihrer Freude über den Wahlerfolg von 2013, auf dem Höhepunkt ihrer Popularität, Ausdruck gibt. Sie zeigt Mitgefühl, auch für ihre Gegner, bis hin zu den sozialdemokratischen Partnern, mit denen sie drei Viertel ihrer Amtszeit regiert hat.
Als Frau, die auf dem ganzen Planeten respektiert ist, wird der Multilateralismus ihre raison d’être. Sie glaubt eisenhart daran und macht ihr Siegel daraus. Von China über Indien, Afrika bis zum Westbalkan streift ihr Blick über Länder und Regionen. Mit einer schier unerreichten internationalen Erfahrung ausgestattet, hat sie alle Grössen dieser Welt getroffen. Einer von ihnen scheint sie besonders beeindruckt zu haben: Barack Obama. Sie erwähnt ihn durchwegs mit lobenden Worten und einer grenzenlosen Bewunderung. Als Gegnerin einer Rückkehr Donald Trumps an die Macht hat sich die Autorin unvorsichtig weit vorgewagt und ihre Hoffnungen in einen Sieg von Kamala Harris gesetzt.

Nach der Wahl vom 23. Februar 2023 könnten die Christdemokraten von Friedrich Merz und die Grünen von Robert Habeck sich gut und gern von Merkels programmatischem Dreiklang inspirieren lassen. Humanismus, Umweltpolitik und Multilateralismus bieten sich als Anknüpfungspunkte einer Regierungskoalition an. Dies unter der Bedingung, dass die beiden Parteien eine Mehrheit der Bundestagssitze erreichen und die bayerische CSU ihr grünes Licht gibt, was bei weitem nicht gesagt ist. Denn selbst in der besten aller Welten gibt es Schattenseiten, die nicht zu vermeiden sind. Und die Memoiren von Angela Merkel sind keine Ausnahme.

Schattenseiten

Am Anfang des Buchs versucht Angela Merkel ihre Vergangenheit als Jugendliche und junge Erwachsene in der DDR mit dem Hinweis auf jene ihrer Eltern zu rechtfertigen. Das ist wenig glaubwürdig. Ihr Vater Horst Kasner, genannt «der rote Kasner» (ihr Mädchenname war Kasner) hatte Hamburg nicht verlassen, um die Opfer des Sozialismus mit dem guten christlichen Wort zu trösten. Als Pfarrer diente er dem Regime der Deutschen Demokratischen Republik als Transmissionsriemen zur Evangelischen Kirche. Von einigen selbstverliebten rebellischen Anwandlungen im Gymnasium abgesehen, hat seine Tochter nie grosse Feindseligkeit gegenüber dem ostdeutschen System an den Tag gelegt. Laut ihrer Darstellung wurde es ihr verwehrt, ihre Doktorarbeit an der Technischen Hochschule Ilmenau – einer Kleinstadt am Fuss des Thüringer Walds – zu schreiben, weshalb sie gezwungen gewesen sei, sich auf die Akademie der Wissenschaften in Berlin zurückzuziehen.

Wer sich mit der Deutschen Demokratischen Republik auskennt, weiss, dass diese Erklärung als Beleg für Widerständigkeit nicht taugt. In Wirklichkeit hat Angela Merkel bei den Demonstrationen, die im Herbst 1989 zum Fall der Mauer führten, keine Rolle gespielt. Sie schloss sich der aufständischen Bewegung erst durch den Demokratischen Aufbruch an, einer kurzlebigen, Mitte rechts angesiedelten Organisation für den Erfolg der CDU in den einzigen freien Wahlen der DDR am 18. März 1990.

Merkel-Europa, neues Europa

Schliesslich Europa. Nicht das Europa des «harten Kerns», nicht jenes der sechs Gründerstaaten. Merkels Europa ist jenes der 27, erweitert um die Staaten von Mittel- und Osteuropa (PECO). Ihr Kanzleramt hat die Europäische Union zum Werkzeugkasten, aber nie zur eigenen Sache gemacht. Im Mittelpunkt eines normalisierten Deutschlands hat Angela Merkel Europa so normalisiert. Sie hat ihm Stoff geliefert , aber die Quintessenz entzogen. Das gilt vor allem für den deutsch-französischen Motor. Die Beziehungen zwischen Berlin und Paris sind ihrem Buch nahezu abwesend. Zu den vier présidents de la République, mit denen sie sich abgeben musste, gibt die Kanzlerin kaum Einschätzungen. Als Erinnerungen bleiben ein Handkuss von Chirac und einige Übereinstimmungen und Meinungsverschiedenheiten mit Sarkozy. Das ist zu wenig und gleichzeitig symptomatisch. Merkels Europa ist nicht mehr dasjenige ihrer Vorfahren. Die Deutschen wissen es und haben es begriffen. Die Franzosen überhaupt nicht. Auf die Gefahr hin, einige gutmeinende Seelen zu verletzen: Wäre es nicht an der Zeit, endlich zuzugeben, dass sich Europa mit Angela Merkel verändert hat? Zugegebenermassen vielleicht nicht im guten Sinne!

Dieser Text ist auf Französisch in der Print-Ausgabe vom 8. Januar 2025 der Tageszeitung Le Temps erschienen.  

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Buch und Autor.

Angela Merkel mit Beate Baumann. Freiheit - Erinnerungen 1954 - 2021. Kiepenheuer & Witsch, 2024. 700 Seiten, Fr. 54.90. Auch als Hörbuch erhältlich.

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