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Völkerrechtliche Gratwanderung zur Vertiefung der Europäischen Union

Neuere, für die Schweiz möglicherweise erhebliche Ideen zur Weiterentwicklung der Europäischen Union (vor kurzem an dieser Stelle dargelegt) zielen auf eine Differenzierung zwischen dem Binnenmarkt und der «immer engeren» politischen Union. Das Verhältnis zwischen Europa- und Völkerrecht gerät damit ins Rutschen.

 

Seit der Eröffnung von Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine und einer Reihe weiterer Staaten hat die Diskussion über Erweiterung und Vertiefung der Europäischen Union wieder Fahrt aufgenommen. Eine interessante Idee, wie EU-Mitgliedschaft künftig neu definiert werden könnte, stammt vom Berliner Juristen Christian Calliess. In seinem Artikel «Erweiterung und Reform der Europäischen Union» geht es um eine Beschränkung der formellen Mitgliedschaft auf den ökonomischen Minimalkonsens in der EU, also den Binnenmarkt inklusive die diesen begleitenden ordnungspolitisch flankierenden Politiken wie Handel, Umwelt- und Verbraucherschutz sowie die Kohäsionspolitik. Die weiterhegende politische Integration würde über sogenannte «Pioniergruppen» erfolgen, auch hinsichtlich des bereits Erreichten wie in der Euro-Gruppe oder des Schengen-Raums. Die Gruppen würden allen Mitgliedstaaten offenstehen, auch jenen, deren formeller Beitritt lediglich den ökonomischen Minimalkonsens der EU umfasst. Sie hätten unterschiedliche Zusammensetzungen und würden dementsprechend auf sich überschneidenden Kreisen beruhen.

Damit würde ein Perspektivenwechsel betreffend Erweiterung und Vertiefung der EU erfolgen, indem das in Artikel 1 des EU-Vertrages niedergelegte Ziel einer «immer engeren Union» auf der Basis von Freiwilligkeit erreicht werden soll. Die Verpflichtung zur vertieften politischen Integration wäre also nicht mehr notwendiger Bestandteil des EU-Beitrittes, denn diese Integration würde über die Pioniergruppen stattfinden. Als Rechtsgrundlage dafür kann Artikel 20 des EU-Vertrages genutzt werden, der eine verstärkte Zusammenarbeit von Mitgliedstaaten vorsieht. Dazu bedarf es der Zustimmung einerseits einer qualifizierten (teils einstimmigen) Mehrheit des Ministerrates und andererseits des Europäischen Parlamentes. Für den Fall, dass diese Zustimmung nicht erreicht werden kann, schlägt Calliess als «neue Architektur» der EU ein Vorgehen durch intergouvernementale Zusammenarbeit vor. Dies würde bedeuten, dass die Rechtsgrundlage einer solchen Pioniergruppe jedenfalls anfänglich auf Völkerrecht, und nicht auf Europarecht beruhen würde. Dieser Perspektivenwechsel hat weitergehende und tiefer reichende Konsequenzen.

Völkerrecht und Europarecht in der EU

Völkerrecht entsteht daraus, dass zwei oder mehrere Staaten miteinander Verträge abschliessen. Auch die EU basiert auf völkerrechtlichen Verträgen, aber schon die erste Vorgängerorganisation vereinbarte 1951 die Schaffung von Institutionen, die in klar vorgezeichneten Abläufen eine neue Kategorie von Recht als Europarecht hervorbringen können. Europarecht entsteht in jenen Bereichen, in denen die Zuständigkeit und damit die Rechtssetzungskompetenz durch die Mitgliedstaaten definitiv an die Union übertragen worden ist. Die Rechtssetzung bedarf der Zustimmung sowohl des Ministerrates als auch des Europäischen Parlamentes. Die Auslegung von Europarecht erfolgt in letzter Instanz durch den Europäischen Gerichtshof EuGH.

Neben diesen europarechtlichen Vorgängen behält auch das Völkerrecht in der EU seine Bedeutung, denn sie ist selber Völkerrechtssubjekt, kann völkerrechtliche Verträge abschliessen, und macht von dieser Möglichkeit regelmässig mit Drittstaaten Gebrauch. Auch die EU-Mitgliedstaaten bleiben in der Lage, völkerrechtliche Verträge abzuschliessen, ausser in den Bereichen, für welche sie die ausschliessliche Kompetenz auf die Union übertragen haben.

In der beschriebenen «neuen Architektur» der EU haben die Rechtsgrundlagen der neuen Pioniergruppen europarechtliche Qualität, wenn sie sich als «verstärkte Zusammenarbeit» auf Artikel 20 des EU-Vertrages abstützen. Wenn nun aber zur Gründung solcher Gruppen ersatzweise auf das Völkerrecht zurückgegriffen werden muss, weil die dafür notwendige Zustimmung nicht erreicht werden kann, stellt sich die Frage, ob das mit dem Europarecht überhaupt vereinbar sei.

«Flucht ins Völkerrecht»?

Wenn Regierungsvertreterinnen und -vertreter der Mitgliedsstaaten an einem von der EU eingerichteten Risch Tisch zusammensitzen, kann es geschehen, dass sie ihren «EU-Hut» ablegen und sich den nationalen Hut aufsetzen, um auf der Basis von Völkerrecht gemeinsame Lösungen zu finden. Das kann verschiedene Gründe haben. Mitgliedstaaten können erkennen, dass drängende Probleme durch gemeinsames Vorgehen angegangen werden müssen, für das aber der Union keine Kompetenz übertragen worden ist, so dass nur das Völkerrecht bleibt. Bewegen sie sich hingegen innerhalb des Kompetenzbereiches der EU, wird die Beurteilung komplizierter.  Europarecht muss die Grundwerte beachten, wie sie in Artikel 2 des EU-Vertrages festgehalten sind, insbesondere Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Grundrechte. Wenn nun Mitgliedstaaten untereinander völkerrechtliche Vereinbarungen treffen würden, durch welche solche Grundwerte in Frage gestellt oder gewissermassen angeritzt werden, wäre dies kompetenzmässig zwar möglich. Dennoch spricht man für solche Fälle von einer «Flucht ins Völkerrecht», was durchaus kritisch gemeint ist. Der EuGH hat sich mit dieser Problematik auch schon befassen müssen

Der Entwurf der «neuen EU-Architektur» beschreibt die Pioniergruppen als fest verankert in den bestehenden EU-Institutionen. Sie sollen keine neuen Institutionen gründen, sondern schnittmengenartig vorgehen. Sie betreiben ihre Aktivitäten zum Beispiel im Ministerrat und im Europäischen Parlament, wobei nur die Vertreterinnen und Vertreter jener Mitgliedstaaten mitentscheiden würden, welche der betreffenden Pioniergruppe angehören. Aber jede dieser Gruppen müsste über einen eigenen Haushalt verfügen, gespeist durch die Mitglieder der Gruppe und verabschiedet von deren Vertretungen in den zuständigen EU-Organen. Als Zeitpunkt für den Start der «neuen Architektur» sieht Autor Calliess die erste Beitrittsrunde, mit welcher die Pioniergruppen geschaffen werden könnten. Ab dann stünden sie  bisherigen und neuen Mitgliedstaaten gleichermassen offen, was für viele Bisherige nur eine formelle Neuerung bedeuten würde.

Neubeginn unter Bewahrung des Erreichten

Von einer «Flucht ins Völkerrecht» kann bei dieser «neuen Architektur» deshalb wohl kaum gesprochen werden, auch wenn die Pioniergruppen zunächst durch völkerrechtliche Vereinbarungen gegründet würden. Es handelt sich auch nicht um einen Rückschritt in der Entwicklung der Europäischen Union, wie der Begriff «Flucht» insinuiert, sondern vielmehr um einen Perspektivenwechsel, indem das im EU-Vertrag festgelegte Ziel einer «immer engeren Union» neu auf dem Weg der Freiwilligkeit erreicht werden soll. Zieht man die historische Entwicklung der heutigen EU in Betracht, könnte man sogar sagen, mit einer solchen neuen Architektur der EU beginne deren Entwicklung partiell nochmals von vorne, ohne aber das inzwischen Erreichte zu gefährden. Jean Monnet und Robert Schuman, die Urväter der europäischen Integration, setzten zunächst auf wirtschaftliche Integration, allerdings in der Hoffnung, dass sich die politische Integration daraus ergeben würde. Und dies war dann ja auch der Fall, wenn auch stufenartig und mit gelegentlichen Rückschlägen.

Betrachtet man die beschriebene neue Architektur der EU in diesem Sinne als eine Art Neugründung ohne Gefährdung des bereits Erreichten, bietet sie auch eine Chance, unliebsame Erfahrungen mitzuberücksichtigen, welche die Union in den vergangenen Jahren machen musste. So zeigt die laufende Ratspräsidentschaft Ungarns auf, wie die Union durch Mitgliedstaaten erschüttert werden kann, deren Regierungen zur EU-Dissidenz neigen.

Gerade im Umgang mit solchen Infragestellungen bieten die ins Auge gefassten Pioniergruppen jedoch Ansatzpunkte, vor allem durch die Notwendigkeit neuer Rechtsgrundlagen für diese Gruppen. Eine Austritts- und Ausschlussklausel wären für sie unabdingbar, dies um zu vermeiden, dass sich ein Gruppenmitglied dauerhaft querstellt. Aber der Ausschluss aus der Pioniergruppe bedeutet im Konzept dieser neuen Architektur eben nicht Aufhebung der Mitgliedschaft in der EU, sondern lediglich die Beschränkung auf die Teilnahme am Binnenmarkt einschliesslich der diesen begleitenden flankierenden Politiken.

Vertiefung trotz Erweiterung

Wenn eine erneute Erweiterung der EU nicht dazu führen soll, dass Konsens über notwendige Massnahmen kaum mehr erreicht werden kann, braucht es differenzierte Integrationsschritte. In Erwägung gezogen wird immer wieder ein «Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten», aufgeteilt in konzentrische Kreise mit verschiedener Integrationsdichte. Nicht nur Beitrittskandidaten, sondern auch verschiedenen Mitgliedstaaten lehnen ein solches Vorgehen jedoch ab, weil sich Staaten ausserhalb des innersten Kreises der Integration zu «Europäern zweiter Klasse» degradiert sehen würden. Das von Calliess vorgestellte Konzept einer «neuen EU-Architektur» umgeht diese Gefahr durch eine neue Definition der EU-Mitgliedschaft.

Das Bild der «Europäer zweiter Klasse» kann aber weiterentwickelt werden und kann den Perspektivenwechsel illustrieren, der diese neue EU-Architektur kennzeichnet. Im Europa der «zwei Geschwindigkeiten» ist die Europäische Union ein Zug mit Erst- und Zweitklasswagen. In der «neuen EU-Architektur» wäre der Zug in unterschiedliche Kompositionen getrennt. Gemeinsam wäre allen Passagieren die EU-Mitgliedschaft, welche die Teilnahme am Binnenmarkt einschliesslich flankierender Politiken ermöglicht. Daneben stünden verschiedene Anschlusszüge bereit, zum Beispiel einer für den Schengen-Raum, einer für den Euro-Raum und künftig einer für eine Verteidigungsunion. Das sind die Züge der vertieften Integration, offen für alle Mitgliedsstaaten.

Der beschriebene Perspektivenwechsel würde die weitere Vertiefung der Union noch in einer anderen Hinsicht garantieren. Vertiefungsunwillige Mitgliedstaaten würden die Vertiefungswilligen nicht mehr behindern können, jedenfalls nicht nachhaltig. Bis zum Brexit manifestierte sich Antieuropäismus vorwiegend durch Exit-Forderungen in den davon betroffenen Mitgliedstaaten. Durch den Brexit gleichsam eines «Besseren» belehrt, lautet die neue Losung dieser Strömungen «in der EU bleiben, sie aber von innen schwächen, wenn nicht gar aushöhlen». Diese neuere Entwicklung macht die Auseinandersetzung mit dem hier beschriebenen Entwurf einer neuen EU-Architektur um so interessanter.

*Gret Haller war Mitglied des Nationalrates (SP) und dessen Präsidentin, Schweizer Botschafterin beim Europarat und OSZE-gewählte Ombudsfrau für Menschenrechte in Bosnien-Herzegowina. Sie ist Ehrenpräsidentin der SGA-ASPE. Ihr neuestes Buch: „Europas eigener Weg. Politische Kultur in der Europäischen Union“, Rotpunktverlag 2024.
Den ersten Teil dieses Artikels haben wir im August 2024 publiziert. Klicken Sie hier.

 

 

 

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