Migration kann im Alleingang nicht gesteuert werden. Nur internationale Zusammenarbeit ist erfolgversprechend. Dies macht eine Berner Dissertation zur Entwicklung des Migrationsrechts deutlich.
Internationale Migration betrifft naturgemäss mehrere Staaten. Der Umgang mit Asylsuchenden und generell mit Migrierenden kann nicht aus rein innenpolitischer Perspektive betrachtet werden. Migrationsmanagement ist ein Teilbereich der Aussenpolitik. Gemeinsames, einvernehmliches Vorgehen ist nicht bloss naheliegend, sondern zwingend geboten. Rosa Maria Losada demonstriert dies faktenreich und überzeugend in ihrer Studie «Die internationale Zusammenarbeit im Migrationsrecht der Schweiz».
Man braucht nicht Juristin oder Jurist zu sein, um die am Berner World Trade Institute unter der Leitung von Thomas Cottier erarbeitete Dissertation mit Spannung und Gewinn zu lesen. Die Autorin stellt das Phänomen der Migration in seinen politischen und ökonomischen Kontext, zeichnet die historische Entwicklung der schweizerischen Migrationspolitik nach und analysiert die Herausforderungen der stetig zunehmenden grenzüberschreitenden Migration. Sie lotet anschliessend den Gestaltungsspielraum und die normativen Rahmenbedingungen für eine kooperative Migrationspolitik aus und wartet mit konkreten Reformvorschlägen auf.
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde die Schweiz vom Auswanderungs- zum Einwanderungsland. Es dauerte nicht lange, bis die Zuwanderung einerseits von Hochqualifizierten und andererseits von Arbeitskräften, auf die man zur Realisierung der grossen Infrastrukturprojekte angewiesen war, Abwehrreflexe auslöste. Der kurz vor dem Ersten Weltkrieg auftauchende Topos der «Überfremdung» fand alsbald Eingang in die Behördensprache und prägte von da an den schweizerischen Migrationsdiskurs durch das ganze 20. Jahrhundert. Migration wurde fortan als Bedrohung wahrgenommen, als Sicherheitsrisiko, dem es mit nationalen Abwehrmassnahmen entgegenzutreten galt.
Migrationspartnerschaft statt einsame Abwehr
Unter dem Eindruck der Wirkungslosigkeit der bisherigen Strategie wurde um die Wende zum 21. Jahrhundert ein allmählicher Paradigmenwechsel von der (reaktiven) Abwehr im Alleingang zu (aktiver) internationaler Kooperation vollzogen. Vorangegangen war die Europäische Union, die ab 1999 («Plan von Tampere») Migrationspolitik als gemeinschaftliche Aufgabe konzipierte und auf Partnerschaft mit den Herkunftsländern setzte. Auch in Bern setzte sich nun die Einsicht durch, dass es nicht zielführend ist, einem internationalen Phänomen wie der globalen Migration mit nationalstaatlichen, auf einem westfälischen Souveränitätsverständnis fussenden Alleingängen begegnen zu wollen. 2004 schloss sich die Schweiz dem gemeinsamen europäischen Asylsystem («Dublin») an.
«Das Ausländerrecht und das Asylrecht sind so wirksam, wie die rechtskräftigen Entscheide über die Ablehnung des Aufenthalts vollzogen werden können», konstatiert Losada bündig. Indes, dieser Vollzug bleibt ohne die Bereitschaft der Herkunftsländer zur Rückübernahme illusorisch. Aus dieser Einsicht bekehrte sich die Schweiz – im Kielwasser der EU – zum Konzept der Migrationspartnerschaft. Dieses fand Eingang in das neue Schweizer Ausländer- und Integrationsgesetz (AIG) von 2005 (Artikel 100).
Skeptisch äussert sich die Autorin zum Versuch der Migrationssteuerung durch Entwicklungszusammenarbeit: zwar sei Armut sehr wohl ein Faktor der Migration und längerfristig könne eine Reduktion des Gefälles zwischen Entwicklungs- und Industrieländern Migrationsbewegungen entgegenwirken; kurzfristig jedoch begünstige Wachstum erfahrungsgemäss die individuelle Mobilität. Überhaupt gibt Losada den Stimmen viel Raum, die grundsätzlich Zweifel an der Wirksamkeit von Entwicklungshilfe gegen Armut und Migrationsdruck anmelden.
«Global Compact» als multilaterale Partnerschaft
Während im Asylbereich internationale Abkommen und Regeln gelten, fehlen solche für Migrierende, die sich nicht auf individuelle Diskriminierung und Verfolgung berufen können. Dies hat zur fatalen Folge, dass aus wirtschaftlichen, sozialen, klimatischen oder noch anderen Motiven Migrierende allzu oft in die Illegalität abgedrängt werden. Daher der Ruf nach Definition legaler Migrationskanäle einerseits und einem umfassenden Migrationsdialog zwischen Herkunfts-, Transit- und Zielländern der Migration andererseits.
Die Autorin erachtet es denn auch als folgerichtig, dass sich die Schweiz sehr aktiv am Prozess beteiligte, der 2018 in den «Global Compact for Safe, Orderly and Regular Migration» (GCM) mündete Zusammen mit seinem mexikanischen Kollegen hatte der Schweizer UNO-Botschafter in New York den «Compact» als Ko-Fazilitator ausgehandelt. Diese «Absichtserklärung mit soft-law-Charakter» stehe geradezu sinnbildlich als Verkörperung von multilateralen Migrationspartnerschaften im Sinne von Artikel 100 AIG. Entsprechend deutliche Worte findet Losada zum überraschenden, innenpolitisch motivierten Übungsabbruch: «Im Dezember 2018 hat sich die Schweiz faktisch vom partnerschaftlichen Ansatz in der Migrationsaussenpolitik verabschiedet, indem sie den GCM nicht unterzeichnet hat und unzählige nationale politische Berichte und Medien gegen den Pakt mobil gemacht haben.»
Quintessenz der gehaltvollen Studie ist das Plädoyer der Autorin für ein neues Narrativ in der Migrationspolitik: ausgehend von der dauerhaften Realität der Migration gelte es, zu einem objektiven, konstruktiven Diskurs zu finden, der effektive Probleme des Migrationsprozesses aufnimmt und lösungsorientiert und solidaritätssuchend eine «triple-win»-Situation zwischen Migrierenden, Herkunfts- und Aufnahmeländern herbeiführt. Als Wegleitung hierzu empfiehlt Losada die aufkommende Doktrin des «Gemeinsamen Anliegens der Menschheit» («Common Concern of Humankind», CCH). Ein Team um Thomas Cottier, in dem auch Rosa Losada mitwirkte, hat die CCH-Doktrin entwickelt mit Blick auf globale Herausforderungen, welche die Menschheit in ihrer Gesamtheit betreffen und die nicht von einem einzelnen Staat im Alleingang bewältigt werden können. Die Migrationsthematik bildete dabei einen geradezu idealtypischen Anwendungsfall.
«Der Umgang mit Migration als ‘Gemeinsames Anliegen der Menschheit’», resümiert Losada, «bietet einen Rahmen, um die Verantwortung der Staaten für eine bessere und erfolgreichere Migrationssteuerung im In- und Ausland zu entwickeln. Die Schweiz könnte gestützt auf ihren langen und erfolgreichen Migrationsdialog die aufkommende Doktrin im multilateralen Migrationsdialog einführen und geeignete Wege und Mittel für deren Annahme als neues Prinzip des Völkerrechts unterstützen.»
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Rosa Maria Losada, Die internationale Zusammenarbeit im Migrationsrecht der Schweiz, Verlag Stämpfli, Bern 2023, 308 Seiten, CHF 88.00.
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