Bald ist Weihnachten. Als Kinder schrieben wir in der Adventszeit jeweils unsere Wünsche auf einen Wunschzettel – in der Hoffnung sie würden am Heilig Abend schön verpackt unter dem Christbaum liegen. Nach dem einseitigen Verhandlungsabbruch des Bundesrats im letzten Mai zum institutionellen Abkommen hat er auch eine Wunschliste an die EU formuliert in der Hoffnung sie werde bald in Erfüllung gehen:
Nur: Während die liebenden Eltern die Wunschliste ihrer Kinder mit Wohlwollen entgegennehmen, findet die Realpolitik definitiv nicht unter dem Weihnachtsbaum statt. Der Bundesrat gab sich bei seinem einsamen Entscheid zum Verhandlungsabbruch (nota bene ohne Einbezug des Parlaments und der in Europafragen erfahrenen und mehrheitlich pragmatisch agierenden Stimmbevölkerung) letzten Mai der Illusion hin, die bilateralen Beziehungen in der bisherigen Ausgestaltung können auch ohne Klärung der institutionellen Fragen aufrechterhalten werden. Er liess dabei vorschnell ausser Acht, dass es für das schweizerische Integrationsmodell sui generis stets auch den aussenpolitischen Willen und die Akzeptanz der EU und ihrer Mitgliedstaaten braucht, um den bilateralen Weg fortsetzen zu können.
Zunehmende Geopolitische Spannungen
Derweil nehmen die geopolitischen Spannungen zu. Der Handelskrieg zwischen den USA und China hat sich unter der neuen US-Administration keineswegs entspannt, vielmehr rücken in der westlichen Hemisphäre der chinesische Machthunger, der menschenverachtende Umgang mit der uigurischen Minderheit, die Unterdrückung der Freiheitsbewegung von Hongkong und die Drohgebärden gegenüber Taiwan in den Fokus. An der Grenze zur Ostukraine demonstriert Russland gerade seine Machtansprüche mit einem massiven Truppenaufgebot. Dass dieses laute Säbelrasseln ernst zu nehmen ist, sollte der Westen spätestens seit 2014 mit der russischen Besetzung der Krim und dem andauernden bewaffneten Konflikt in den ostukrainischen Provinzen wissen. Ein Ende der blutigen Bürgerkriege in Jemen, Syrien und Libyen sind nicht in Sicht. Aus Weissrussland heraus versucht derzeit der autokratische Herrscher Europa auf infame Weise mit Migrationsströmen zu erpressen.
Gerade aufgrund dieser zunehmenden geopolitischen Spannungen sollte sich die Schweiz nicht künstlich von der EU zu distanzieren versuchen, sondern zusammen mit den europäischen Partnern unsere gemeinsamen politischen und kulturellen Werte und Interessen mit Überzeugung und Vehemenz vertreten und verteidigen.
Wo bleibt die europapolitische Strategie des Bundesrats?
Auch ein halbes Jahr nach Verhandlungsabbruch ist seitens des Gesamtbundesrats keine europapolitische Strategie erkennbar. Vielmehr hat sich unsere Exekutive in eine Sackgasse hineinmanövriert. Dabei ist die Ausgangslage klar: der bilaterale Weg war der innenpolitisch breit getragene und direkt demokratisch mehrmals legitimierte Kompromiss während der letzten zwei Jahrzehnte mit sektoriellem Marktzugang, Bildungs-, Forschungs- und Sicherheitskooperationen und daraus resultierendem grossem Wohlstandsgewinn für die Schweiz. Eine kontinuierliche Weiterführung dieses schweizerischen Integrationsmodells ist ohne Klärung der institutionellen Fragen nicht möglich – because it takes two to tango. Eine Desintegration führt unweigerlich zu Wohlstandsverlusten, eine weitere Integration zu Gewinn an Mitbestimmung, dauerhafter Rechtssicherheit und damit zum Erhalt der Attraktivität des Wirtschaftsstandorts. Letztere hat ein finanziell höheres Preisschild, doch auch unter dem buchhalterischen Strich liegt die weitergehende europäische Integration auf Dauer im Interesse der Schweiz.
Dargebotene Hände seitens Parlaments
Gewiss, Aussenpolitik ist Innenpolitik und muss in unserem direkt-demokratischen System von einer Mehrheit des Souveräns mitgetragen werden. Dafür braucht es Leadership, vor allem vom Bundesrat: Überzeugungskraft, Pragmatismus und der konkrete Wille zu Lösungen sind gefragt. Weil die Exekutive dies derzeit vermissen lässt, springt die Aussenpolitische Kommission des Nationalrats immer wieder in die Bresche und bietet dem Bundesrat eine dargebotene Hand für die Kreierung einer Verhandlungsmasse mit der EU an – zuletzt mit der Verdoppelung der Schweizer Kohäsionsbeiträge, sofern die Voll-Assoziierung an Horizon Europe bis im Juni 2022 erfolgt. Doch diese parlamentarischen Vorschläge wurden entweder schleunigst schubladisiert oder schnöde zurückgewiesen, notabene ohne dass das Regierungskollegium jeweils eigene kreative Alternativen aufgezeigt hat.
Prinzip Hoffnung unter dem europapolitischen Weihnachtsbaum
So dominiert nun in der Vorweihnachtszeit auch in der Europapolitik weiterhin das Prinzip Hoffnung. Doch schon im Januar sollten seitens des Bundesrats konkrete Ideen und Vorschläge auf dem Tisch liegen. Charles Dicken’s Christmas Carol lehrt uns zwar, dass in der Weihnachtszeit Eingebungen das Leben verändern können, doch seit unserer Kindheit wissen wir auch, dass noch nie sämtliche Wünsche auf unserem Weihnachtswunschzettel in Erfüllung gingen. Deshalb braucht es nun rasch die Definition gemeinsamer Ziele mit der EU, die Klärung gegenseitiger Erwartungen sowie den Entwurf einer Roadmap. Wir wollen und dürfen es uns nicht leisten, weiterhin wertvolle Zeit verstreichen zu lassen zulasten unseres Wirtschafts- Forschungs- und Bildungsstandorts. Dafür ist er uns zu viel wert.
Kurz und Kräftig. Die wöchentliche Dosis Aussenpolitik von foraus, der SGA und Caritas. In der Ausgabe Nr. 466, November 2024, steht die Migrationsvereinbarung der EU mit Tunesien im Fokus. Zahlreiche Flüchtlinge sind unmenschlichen Bedingungen und Abschiebungen in Wüstengebiete ausgesetzt, was zu Spannungen auf der geopolitischen Ebene führt. Espresso Nr. 466 | 19.11.2024
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