Asien, vorab China, wird das neue Jahrhundert wirtschaftlich und geopolitisch prägen. Was bedeutet das für Europa und für die kleine, auslandabhängige Schweiz? Der ausgewiesene Asienkenners Urs Schoettli legt dazu ein neues, lesenswertes Buch vor.
Welche Konsequenzen hat für uns die Ablösung der Pax Americana durch die Aspirationen des neu-alten Hegemonen China? Welche Herausforderungen, Chancen und Risiken ergeben sich aus den Machtverschiebungen, deren Zeugen wir gerade sind? Was bedeutet dies für die Schweiz? Welche Spielräume hat sie in der neuen Weltkonstellation?
Urs Schoettli, langjähriger Asienkorrespondent der NZZ, ist überzeugt, dass die kosmopolitische Schweiz gute Karten hat. Er mahnt aber, sich mit Asien, seiner Geschichte, seinen Kulturen und seinen Befindlichkeiten vertieft auseinanderzusetzen. Die Schweiz, beginnend bei ihren Schulen, sieht er diesbezüglich bedenklich im Verzug.
Eurozentrismus über Bord werfen!
Verabschiedet euch vom herkömmlichen Eurozentrismus, lautet das Ceterum censeo des Autors. Gemeint ist damit nicht, die Schweiz solle darauf verzichten, ihren Platz innerhalb Europas zu klären und auszufüllen, um stattdessen einem anderen Kontinent Priorität einzuräumen. Nein, was Schoettli meint und beredt begründet, ist: Blickfeld erweitern, sich auf ferne Länder und fremde Kulturen einlassen, Wissen à jour bringen, abgegriffene Clichés (von japanischen «Massenmenschen» über die chinesische «gelbe Gefahr» bis zur angeblich unabänderlichen Armut Indiens) über Bord werfen, die althergebrachte europäische Arroganz ablegen. Nicht um eine Alternative zu Europa geht es dem Autor, vielmehr um die Adaptation der Gesamtstrategie an die gewandelte Weltlage.
Dem Plädoyer kann man nur zustimmen. Gleichzeitig reibt man sich gelegentlich die Augen, wenn der Autor – Folge einer Verklärung infolge langer Landesabwesenheit? – einer von Clichés nicht freien Sicht auf Geschichte und Identität seines Herkunftslandes nachhängt. Weder war die Eidgenossenschaft seit jeher direktdemokratisch, noch hat sie es stets vermeiden können, sich an eine Grossmacht anzulehnen, noch war sie gänzlich unbeteiligt am Kolonialismus.
Aber das tut der Analyse der Chancen der Schweiz im radikal neuen globalen Kontext keinen Abbruch. Schoettli lotet aufgrund reicher Erfahrung die Möglichkeiten des kleinen, aber potenten Players Schweiz im Verhältnis zum vielfältigen, enorm dynamischen und immer selbstbewussteren Asien differenziert aus. Er analysiert die Beziehungen nicht nur zur wiederauferstandenen Supermacht China, sondern auch zu dem in letzter Zeit vernachlässigten Japan und zu Indien, das im 21. Jahrhundert zur drittgrössten Volkswirtschaft der Welt aufsteigen dürfte, sowie zu den vitalen kleinen und mittleren Volkswirtschaften Ost- und Südostasiens.
Ein engeres Zusammengehen mit den demokratisch und marktwirtschaftlich verfassten Kleinstaaten Singapur, Südkorea und Taiwan liegt Schoettli besonders am Herzen. In einer multipolaren Welt sei es sinn- und wertvoll, wenn sich kleine Player mit ihren spezifischen Anliegen und Verwundbarkeiten untereinander verständigen. Das Hauptaugenmerk des Autors liegt jedoch auf den Beziehungen zu China, das sich nach einer hundertfünfzigjährigen Schwächephase kraftvoll auf der Weltbühne zurückmeldet. Ins Licht gerückt werden ebenso die Wachstumspotentiale Indiens, das gegenüber China punkto Rechtstaatlichkeit im Vorteil ist und dieses wohl bald auch bevölkerungsmässig hinter sich lassen wird.
Die Schweiz sei dank ihrer kosmopolitischen Identität in einer günstigen Ausgangslage, konstatiert Schoettli. Einen Erfolgsfaktor sieht er in der Weltoffenheit des Landes, das nicht nur von der Einwanderung profitiert hat, sondern auch von Auswanderung und der internationalen Erfahrung und Vernetzung dank grosser Diaspora. Im Verhältnis zu China fällt ins Gewicht, dass das Land nicht daran beteiligt war, die Schwächephase des Riesenreichs auszunutzen, und zu den ersten gehörte, die nach der kommunistischen Machtübernahme Beziehungen zur roten «Dynastie» aufnahmen.
Für vermehrte globale Präsenz
Politische Pragmatik heisst für Schoettli, sich maximal in internationalen Foren zu engagieren. Energischer Einsatz für den bedrohten Multilateralismus sei das Gebot der Stunde. Die Schweiz solle vermehrt in die globale Präsenz investieren und sich für Freihandel und für die Freiheit der Meere einsetzen, fordert er.
Nicht unerwähnt bleiben die Schwierigkeiten und Risiken im Umgang mit einem immer dominanteren China, das auf die Weltbühne zurückkehrt im Bewusstsein, Hort der Zivilisation zu sein und in einer mehrtausendjährigen Tradition zu stehen. Es muss damit gerechnet werden, dass China altbewährte Verfahrensweisen einer totalitären Diktatur beibehalten wird. Die fehlende Trennung zwischen Militär, Geheimdienst, Parteiapparat, ziviler und staatlicher Wirtschaft hypothekiert den Daten- und Knowhowtransfer. Datenmissbrauch, Cyberkrieg, Fake-News-Verbreitung sind nicht unbekannt. Auffallend zurückhaltend beurteilt der Asienkenner die Erfolgsaussichten der Belt & Road Initiative («neue Seidenstrasse»). Er zieht aber nicht den Schluss, man solle abseitsstehen. Vielmehr rät er zu aktiver, wenngleich illusionsloser Zusammenarbeit. Statt halbherzig Menschenrechte anzumahnen, solle man besser die erzielten Fortschritte anerkennen und nach Möglichkeit die Zivilgesellschaft stärken und durch intensiven Austausch Schrittmacherdienst bei Rechtsstaatlichkeit, Transparenz, Corporate Governance und Chancengleichheit zu leisten suchen.
Wenige Schweizer kennen Asien wie Urs Schoettli. Einige seiner Beobachtungen und Überlegungen kennt man schon aus früheren Büchern aus seiner Feder. Das ist kein Mangel. Die Einsichten des langjährigen Berichterstatters aus Delhi, Hongkong, Beijing und Tokio werden hier zu einem reichhaltigen, aktuellen Gesamtbild verdichtet. Etwelche Redundanzen sieht man dem Asienkenner und begnadeten Vermittler gerne nach.
Urs Schoettli, Der Asienschock, Wie wir uns im asiatischen Jahrhundert behaupten können, NZZ Libro, 2020, 175 Seiten, CHF 38.
Kurz und Kräftig. Die wöchentliche Dosis Aussenpolitik von foraus, der SGA und Caritas. In der Ausgabe Nr. 465, November 2024, steht die erneute Untersuchung des Internationalen Strafgerichtshofs zu Verbrechen in der Demokratischen Republik Kongo im Fokus. Angesichts des anhalten Konflikts und der historischen Straflosigkeit ist es wichtig, Gewaltzyklen zu durchbrechen und dauerhafte Stabilität zu fördern. Espresso Nr. 465 | 05.11.2024
Neue Beiträge von Joëlle Kuntz (La neutralité, le monument aux Suisses jamais morts) sowie von Martin Dahinden und Peter Hug (Sicherheitspolitik der Schweiz neu denken - aber wie?)
Livre (F), Book (E), Buch (D)
Das Schweizer Mandat im UNO-Sicherheitsrat (2023 und 2024) fällt in turbulente Zeiten, der Rat hat Schwierigkeiten, in den grossen Fragen Entscheide zu fällen. Jeden Samstag fassen wir das Ratsgeschehen und die Haltung der Schweiz zusammen.
Infoletter «Schweiz im Sicherheitsrat» abonnieren Alle Berichte FAQ – Schweiz im Sicherheitsrat