Ab heute, 1. Januar 2025, ist die Schweiz nicht mehr im Sicherheitsrat. An ihre und Maltas Stelle treten Griechenland und Dänemark als Vertreter der UNO-Ländergruppe «Westeuropäer und andere».
Damit findet auch unsere Wochenchronik «Schweiz im Sicherheitsrat» ein Ende. Zweimal 52 mal haben wir jeden Samstag nachgetragen, was im Rat Thema war, wo er «handelte» (will heissen: sich über zu oft leere Worte einig wurde), wo er blockiert blieb, und wie die Schweiz sich schlug. Unsere Quellen waren öffentlich, die Darstellung subjektiv und immer unabhängig: Das Aussenministerium EDA hielt uns betont auf Armeslänge, und das war gut so.
Soweit ersichtlich, waren wir die einzigen, die das Verhalten der Schweiz im Sicherheitsrat systematisch verfolgten. Mitgeholfen haben die beiden ehemaligen EDA-Mitarbeiter Markus Heiniger und René Holenstein, der frühere SRG-Journalist Markus Mugglin und die Politikwissenschafterin Ronja Wirz. Merci, KollegInnen!
Für den Rest der Öffentlichkeit blieb das Nebensache. Good news, die eben keine news sind. Die Rückblicke in diesen Tagen heben – zu Recht – die solide diplomatische Schweizer Leistung hervor, es gibt wohl auch Interviews ad majorem gloriam des beteiligten Personals. Die Tonart ist Nationalstolz («Blick»: «Die Welt braucht die Schweiz»). Doch«wie es wirklich gewesen ist», wird dereinst den Historikern vorbehalten bleiben. Wir wissen nicht, wie viel des oft bemühten «Brückenbaus» der Schweiz hinter den Ratskulissen gelungen ist. Und wir können allenfalls vermuten, dass es zwischen der Mannschaft in New York und der Zentrale in Bern mehr Dispute, Kontroversen und Konflikte über die Positionsbezüge im Rat gegeben hat, als sich aus der staatlichen «Kommunikation» herauslesen lässt. Ein erstes Fazit wurde an der ganztägigen Veranstaltung der SGA-ASPE am 21. November 2024 gezogen.
Vorher war es anders. Die 2011 vom Bundesrat beschlossene Kandidatur für den Sicherheitsrat war innenpolitisch bis zuletzt umstritten. Noch im März 2022 forderte die Fraktion der Schweizerischen Volkspartei im Nationalrat den Verzicht. In der namentlichen Abstimmung unterlag sie haushoch, aber es ist davon auszugehen, dass die vorgetragenen Argumente in der Bevölkerung breiteren Widerhall finden als im Parlament. Ebenso, dass sie in einer Reihe kommender Auseinandersetzungen wieder auftauchen. Wieviel sie wert sind, kann anhand der Erfahrungen aus dem Schweizer Sicherheitsratsmandat nachgeprüft werden. Aus diesem Grund erteilen wir den Gegnern das Wort und zitieren das Fraktionsvotum von Nationalrat Köppel in der ausserordentlichen Session des Nationalrats vom 10. März 2022 verbatim.
Köppel Roger (V, ZH): Wir reden heute über die Sicherheit, wir reden über die schweizerische Neutralität, und wir reden über die Kandidatur der Schweiz für den UNO-Sicherheitsrat. Die SVP-Fraktion fordert Sie auf, bittet Sie, sehr geehrter AB 2022 N 321 / BO 2022 N 321 Herr Bundesrat, dieses vor vielen Jahren in sorglosen Zeiten eingereichte Gesuch zurückzuziehen. Der Beitritt zum Sicherheitsrat der Vereinten Nationen würde die Neutralität der Schweiz weiter torpedieren und damit ein unkalkulierbares Risiko für unser Land bedeuten. Die Weltlage macht uns das schlagartig bewusst.
Es herrscht wieder Krieg in Europa, existenzielle Fragen der Sicherheit kehren zurück. Ausgerechnet in diesen Zeiten wachsender Unsicherheit verkauft der Bundesrat unsere einzige Munitionsfabrik an Italien. Meine sehr geehrten Damen und Herren, wachen Sie auf! Das wichtigste Instrument der inneren und äusseren Sicherheit für die Schweiz ist die immerwährende bewaffnete Neutralität. Stets umstritten, immer wieder für unzeitgemäss erklärt, hat uns diese Staatsmaxime mit erstaunlichem Erfolg durch die Stürme der Geschichte und durch unzählige Kriege geführt.
Neutralität bedeutet:
1. Die Schweiz mischt sich nicht in fremde Händel ein, sie nimmt an keinen Kriegen teil, auch nicht mit Sanktionen an Wirtschaftskriegen.
2. Die Schweiz macht nicht mit in politischen oder militärischen Bündnissen, die sie in einen Krieg hineinziehen könnten.
3. Die Schweiz ergreift im Krieg für niemanden Partei; sie hält sich heraus, und sie hält sich zurück.
Neutralität ist die bedingungslose Gleichbehandlung aller Kriegsparteien. Die Artikel 173 und 185 der Bundesverfassung fordern vom Bundesrat und von der Bundesversammlung die Wahrung der Neutralität zur Wahrung der inneren und äusseren Sicherheit unseres Landes.
Neutralität ist anspruchsvoll. Es braucht Mut, um sich in kriegerischen Zeiten Zurückhaltung aufzuerlegen und sich nicht vom Strom der Emotionen mitreissen zu lassen.
Neutralität ist Sicherheit, Neutralität ist aber auch nützlich für die Welt. In einer Welt der Kriege braucht es auf der Landkarte einen weissen Fleck, ein neutrales Gelände, wo die Kriegsparteien ohne Waffen miteinander reden können. Das ist, das wäre die neutrale Schweiz mit ihren guten Diensten: eine Friedensinsel, eine Friedenshoffnung in einer kriegerischen Welt.
Herr Bundespräsident, die Schweiz muss zurück zur strikten, immerwährenden Neutralität. Wir müssen raus aus den Sanktionen, wir müssen raus aus der Parteinahme im Wirtschaftsweltkrieg gegen Russland.
Zur Neutralität gehört aber auch und vor allem, dass wir auf keinen Fall dem UNO-Sicherheitsrat beitreten. Der Sicherheitsrat entscheidet über Krieg und Frieden, er ergreift Sanktionen, er erlässt bindende Mandate. Die Schweiz muss sich daran halten, auch bei Stimmenthaltung im Konfliktfall.
1981 hat der Bundesrat noch festgehalten: «Die militärischen Massnahmen, die der Sicherheitsrat nach Artikel 42 anordnen kann, […] kommen für einen neutralen Staat alleine schon deswegen nicht in Betracht, weil sie mit dem Neutralitätsrecht in Widerspruch stünden.» Die Charta der UNO hat sich seither um keinen Buchstaben geändert. Wenn der Bundesrat heute kein Neutralitätsproblem mehr sieht, dann muss er seine Neutralitätsauffassung auf den Kopf gestellt haben.
Die Schweiz ist ein Rechtsstaat, kein Machtstaat. Im Sicherheitsrat aber geben die Grossmächte den Ton an. Sie haben ein Vetorecht, und sie setzen Macht vor Recht. Die Schweiz aber setzt auf das Recht. Sie darf sich der blossen Macht nicht unterwerfen. Der Sicherheitsrat hat keine Armee, seine Kriege führen Nato-Staaten bzw. die Amerikaner. Kollektive Sicherheit und der globale Führungsanspruch der USA schliessen sich aus. (Glocke der Präsidentin) Ich weiss, Frau Präsidentin, Sie schauen jetzt auf den Sekundenzeiger, aber ich bin der einzige Redner, und ich bin gleich fertig. Unsere Neutralität ist mit der Anerkennung nicht vereinbar. (Zwischenruf der Präsidentin: Wir haben uns auf Kategorie IV geeinigt. Das bedeutet fünf Minuten Redezeit. Sie haben diese fünf Minuten überschritten.) Nur noch ein Satz. (Zwischenruf der Präsidentin: Ich weiss, Sie hätten sich eine andere Kategorie gewünscht. Akzeptieren Sie die Spielregeln!)
Im Rückblick auf zwei Jahre Schweiz im Sicherheitsrat ist festzustellen: Vom beschriebenen Schreckensszenario ist nicht wenig eingetreten, sondern überhaupt nichts. Im Einzelnen:
– Neutralität: Das Mandat hat sie in keiner Weise torpediert. Genau genommen war die Neutralität nie ein Thema, mit Ausnahme gelegentlicher Sticheleien Russlands, dem der schweizerische Nachvollzug der europäischen Sanktionen nach seinem Überfall auf die Ukraine schlecht bekommt. Dieser Berner Entscheid hatte und hat mit dem Sicherheitsratsmandat nichts zu tun. Es gibt – russisches Veto – keine UNO-Sanktionen gegen Russland. Die Schweiz konnte als Sicherheitsratsmitglied so neutral sein, wie sie wollte. Wie sie ihre Neutralität handhabt, blieb ihre Sache. Hoffentlich nicht «bedingungslos».
– «Einmischung in fremde Händel»: Aufgabe des Sicherheitsrats ist die «Wahrung von Frieden und Sicherheit in der Welt», und mit ihrem Einsitz hat die Schweiz ihre Bereitschaft zur Mitarbeit erklärt. Wie ein guter Bürger, der sich für den Gemeinderat oder die Feuerwehr zur Verfügung stellt, hat sie im Sicherheitsrat mitgearbeitet. Das entspricht dem Auftrag der Bundesverfassung, ist aber in der Tat das Gegenteil der von den Gegnern geforderten «Zurückhaltung». Die Schweiz hat das grosse Podium genutzt, um für die Einhaltung der UNO-Charta – für einen Mitgliedsstaat kein «fremder» Handel – und des Kriegsrechts zu werben. Ein-, zweimal in radikaler Form mit dem Hinweis, dass die Limiten der militärischen Gewaltanwendung auch dann gelten, wenn die andere Seite sie nicht respektiert. Die Schweiz hat überdies mit den anderen neun nichtgewählten Mitgliedern versucht, den «Ständigen Fünf» geschlossen die Stirn zu bieten. Im Fall des Gaza-Kriegs gelang es, den «Gewählten Zehn», eine Resolution durchzubringen. Dass diese leerer Buchstabe blieb, steht auf einem anderen Blatt.
– Sanktionen: Die Schweiz hat mehrfach für die Verlängerung bestehender Sanktionen und einmal – im Fall Haiti – für die Autorisierung militärischer Gewaltanwendung gestimmt. Die meisten dieser Entscheide fielen einstimmig. Hätte sie sich enthalten oder dagegen stellen sollen? Wiederholt hat die Schweiz auf Ausnahmen und Einsprachemöglichkeiten gepocht, mit vereinzelten Erfolgen.
– «Wirtschaftsweltkrieg gegen Russland»: Das ist nicht gerade eine neutrale Beobachtung und scheint angesichts des ökonomischen Gewichts der Russischen Föderation etwas übersteuert. Wenn ein Wirtschaftskrieg geführt wird, dann gegen die Wasser- und Elektrizitätsversorgung der Ukraine. Übrigens ein Kriegsverbrechen, das die Schweiz im Rat – wie die meisten anderen Mitglieder – regelmässig als solches bezeichnet hat.
– «Globaler Führungsanspruch der USA»: In den zwei Schweizer Mandatsjahren war er weniger durchschlagskräftig als behauptet. Im Fall Gaza standen die USA mehrfach allein und waren auf ihr Veto angewiesen, um missliebige Ratsentscheide abzuwenden. Es ist zunehmend zu beobachten, dass die Staaten des Welt-Südens – namentlich in Afrika – sich den «westlichen» Vorstellungen von Recht, Menschenrecht und «guter Regierungsführung» versagen, oft auch, weil westliche Regierungen nicht überall mit gleicher Elle messen und sich dem Vorwurf des «Doppelstandards» aussetzen. Mehrere afrikanische Staaten sind dabei, UNO-Blauhelmmissionen aus dem Land zu komplimentieren, weil ihnen deren menschenrechtlichen Mandate in die Nase stechen. Russland und China sind in der Offensive. Sie stellen sich als Verteidiger der UNO-Charta gegen «westliche» Konzepte der «Rechtsstaatlichkeit» dar, die sie als neo-imperialistische Bevormundung gegen «souveräne» nationale Regeln denunzieren. Dieser Streit ist kein «Krieg», aber eine Auseinandersetzung, der sich die Schweiz auf absehbare Zeit nicht entziehen kann. Hinzu kommt, dass der Sicherheitsrat – vielleicht die UNO als Ganzes – in grossen Konflikten nicht nur blockiert ist, sondern von den Kontrahenten zunehmend ausser acht gelassen wird. Unter dem Strich bedeutet dies mehr «Macht» und weniger «Recht». Die Schweiz («Rechtsstaat, kein Machtstaat») hat während ihrer Mitgliedschaft darauf insistiert, dass der Rat sich von solchen Konflikten nicht abwendet.
Wir wünschen ein gutes und gelungenes 2025!
Kurz und Kräftig. Die wöchentliche Dosis Aussenpolitik von foraus, der SGA und Caritas. In der Ausgabe Nr. 469, Januar 2025, stehen die Flüchtlinge aus Myanmar nach Thailand, Indien und Malaysia im Fokus. Der Konflikt destabilisiert die Region, da die Nachbarländer durch überfüllte Flüchtlingslager und fehlende Ressourcen belastet sind. Nr. 469 | 14.01.2025
Neue Beiträge von Joëlle Kuntz (La neutralité, le monument aux Suisses jamais morts) und Markus Mugglin (Schweiz – Europäische Union: Eine Chronologie der Verhandlungen) sowie von Martin Dahinden und Peter Hug (Sicherheitspolitik der Schweiz neu denken - aber wie?) Livre (F), Book (E), Buch (D)
Zu den BeiträgenDas Schweizer Mandat im UNO-Sicherheitsrat (2023 und 2024) fällt in turbulente Zeiten, der Rat hat Schwierigkeiten, in den grossen Fragen Entscheide zu fällen. Jeden Samstag fassen wir das Ratsgeschehen und die Haltung der Schweiz zusammen.
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