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Die OSZE blickt auf die Schweiz als Retterin in der Not

Nach Finnland und Malta könnte 2026 die Schweiz den Vorsitz der OSZE übernehmen – in einer Zeit, in der die Organisation durch politische Blockaden und finanzielle Unsicherheiten mehr als nur ihre Handlungsfähigkeit verloren zu haben scheint. In Bern wird derzeit intensiv diskutiert, ob die Schweiz diese Verantwortung übernehmen soll. Viele Mitgliedsstaaten setzen auf die helvetische Neutralität als letzte Hoffnung.

«1996, 2014, 2026» ist nicht der Titel der neuesten WM-Hymne, sondern könnte schon bald das Engagement der Schweiz in der OSZE beschreiben. Die Organisation aus 57 Mitgliedsstaaten «von Vancouver bis Wladiwostok» ist seit dem Krieg gegen die Ukraine politisch gelähmt. Die Krise kristallisiert sich zurzeit in der Suche nach einem Vorsitz. Die OSZE ringt um einen Vorsitz für 2026. In diesem Jahr liegt er bei Malta, für 2025 konnten sich die Teilnehmerstaaten auf Finnland einigen, aber die neue Troika (Vorsitzland plus Vorgänger und Nachfolger) ist noch nicht komplett. Für 2026 zeigten verschiedene NATO-Staaten Interesse, aber die Russische Föderation hat klar gemacht, dass für sie ein NATO-Land nicht in Frage kommt. Aufgrund des Vetoprinzips der OSZE scheidet ein NATO-Staat damit aus, wodurch die Schweiz als neutrales Land ins Blickfeld rückt, um eine tragende Rolle einzunehmen. Bereits 1996 und 2014 hatte die Schweiz den Vorsitz der internationalen Organisation inne.
Ein Engagement der Schweiz steht deshalb schon seit längerem im Raum. Wurde ein helvetischer Vorsitz 2023 noch rein spekulativ diskutiert, ist dieser in den letzten Monaten für viele Teilnehmerstaaten zur präferierten Möglichkeit geworden, denn die Auswahl an Kandidaten ist begrenzt. Neben der Schweiz wird derzeit kein anderes Land öffentlich als Vorsitzland 2026 diskutiert. Die Schweiz hat bisher keine Stellung dazu genommen, doch in Bern ist die Nachricht längst angekommen. Im Eidgenössischen Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) wird offenbar ein entsprechender Vorschlag für den Bundesrat vorbereitet. Eine Zusage für den Vorsitz gilt laut anonymen Quellen aus dem EDA als sehr wahrscheinlich. Die Chance, dass die Schweiz in 13 Monaten einspringt, stehen also gut. Doch ob die Schweizer Neutralität im aktuellen geopolitischen Umfeld ausreicht, um die OSZE zu stärken, oder ob die Organisation weiter an Bedeutung verliert, hängt nicht allein von der Bereitschaft in Bern ab – sondern auch davon, ob die 57 Teilnehmerstaaten bereit sind, das grosse Versprechen der Zusammenarbeit wieder mit Leben zu füllen.

Gute Erfahrungen in einem schwierigen Umfeld

Dass die Schweiz von vielen Ländern als Nachfolgerin von Finnland gewünscht wird, hat nicht nur mit ihrer vermeintlich neutralen Positionierung zu tun. Sie hat in ihrem letzten Vorsitz 2014 unter Aussenminister und Bundespräsident Didier Burkhalter einen guten Job gemacht. Die Teilnehmerstaaten zeigten sich vom Schweizer Engagement überzeugt, und auch das EDA gab sich gute Noten. In ihrem Schlussbericht zum Vorsitzjahr bilanzierte das Departement: «Mit dem OSZE-Vorsitz vermochte die Schweiz nützliche Beiträge an die Förderung von Sicherheit und Kooperation in Europa zu leisten». Der OSZE misst sie einiges an Bedeutung zu. Das EDA sieht die OSZE als «das einzige permanente Dialogforum, in dem alle relevanten Akteure im Dialog bleiben». Diese Bedeutung der OSZE unterstreicht das EDA auch in ihrem OSZE-Aktionsplan 2022-2025. Die Schweiz sei gut aufgestellt, um die Organisation in den kommenden Jahren wirksam zu unterstützen. In einem so kritischen Moment wie jetzt ist die Schweiz gefordert, diesen Worten auch mit Taten zu folgen.
In den Schweizer Medien liest man von diesen Diskussionen bisher noch nicht viel. Mit den aktuellen Ereignissen im Nahen Osten, zuletzt in Syrien, und den Verhandlungen über die Bilateralen III sind solche Neuigkeiten wohl weniger relevant. Neuigkeiten aus Wien genossen in den Schweizer Medien allerdings nie eine hohe Attraktivität. Die mangelnde Berichterstattung ist nicht zuletzt den eingeschränkten Aktivitäten der OSZE geschuldet. Die Zahl kritischer Stimmen nahm in den letzten Jahren stetig zu – die Organisation, gelähmt durch das Konsensprinzip, sei nicht mehr handlungsfähig, aussenpolitische Aktivitäten würden anderswo deutlich mehr Wirkung entfalten.
In der Tat ist die OSZE seit einigen Jahren in ihren Aktivitäten deutlich limitiert. Die eingeschränkte Handlungsfähigkeit und das künftig unbemannte Steuer der OSZE waren auch am Ministertreffen in Malta Anfangs Dezember das grosse Thema. Gelindert wurde das Problem mit dem gemeinsamen Entscheid der Teilnehmerländer, die vier Spitzenpositionen der OSZE neu zu besetzen. Diese waren seit September vakant und sorgten für grossen Unsicherheiten innerhalb der Organisation. Nach intensiven Verhandlungen konnte man sich einigen auf Feridun Sinirlioğlu aus der Türkei als Generalsekretär, Maria Telalian aus Griechenland für das Büro für demokratische Institutionen und Menschenrechte, Christophe Kamp aus den Niederlanden als Hochkommissar für nationale Minderheiten und Jan Braathu aus Norwegen als OSZE-Beauftragter für die Freiheit der Medien.

Zwischen Stillstand und Hoffnung

Weiterhin offen bleibt hingegen die Finanzierung der Organisation. Zuletzt konnte man sich auf ein Budget für 2021 einigen, ein verabschiedetes Budget für 2024, geschweige denn 2025, gibt es bisher nicht. Seither operiert die OSZE auf Basis dieses eingefrorenen Haushalts, was zu weitreichenden Einschränkungen in ihren programmatischen Aktivitäten führte. Damit sind wir zurück beim Ministertreffen in Malta, wo zahlreiche Teilnehmerstaaten die Blockade des Budgets, die hauptsächlich Russland zugeschrieben wird, aufs schärfste kritisierten.
Viele Staaten forderten zudem eine Lösung der Frage nach dem Vorsitz der OSZE für die nächsten Jahre. Zypern hat sich bereits für 2027 zur Verfügung gestellt, der Vorsitz für 2026 wurde aber von den meisten Ländern nicht direkt angesprochen. Der norwegische Aussenminister Espen Barth Eidel wählte allerdings klarere Worte und sprach damit wohl für eine Vielzahl von Länder. In seiner Abschlussrede sprach er die «starken Gerüchte» an, dass die Schweiz den Vorsitz übernehmen könnte – ein Schweizer Vorsitz sei herzlich willkommen.
Die OSZE sucht einen Kapitän, und alle Blicke richten sich auf die Schweiz. Ob Bern sich traut, das Steuer zu übernehmen, muss sich bald zeigen, doch die Sterne stehen gut. Mit dem geopolitischen Wandel ist die Arbeit in der OSZE schwieriger denn je, aber auch wichtiger denn je. Wie sich die Organisation entwickelt und ob die Zusammenarbeit von Wladiwostok bis Vancouver, also von den USA und dem «Westen» mit Russland, wie es die Teilnehmerstaaten es so gerne betonen, in Zukunft funktionieren wird, ist unklar. Die sich stetig verschlechternde Sicherheitslage, auch innerhalb Europas, macht die Arbeit der OSZE nicht einfacher. Sicher ist nur: Wenn die Schweiz 2026 den Vorsitz übernimmt, wird sie mehr retten müssen als nur den guten Ruf der Organisation.

 

Anmerkung am 20.12.2024:  Die Schweiz hat am 19. Dezember ihre Kandidatur für den OSZE Vorsitz 2026 bekannt gegeben.

Anmerkung am 30.12.2024: Der Schweizer Vorsitz der OSZE für 2026 wurde von der OSZE bestätigt.

 

#Multilateralismus #Schweizer Aussenpolitik

Nachtrag

Autor Leo Hurni (1997) leitet die Geschäftsstelle der SGA-ASPE. Er schloss an der Universität Zürich in Politikwissenschaften und Philosophie ab und erwarb an der Universität Leiden einen Master in Krisen- und Sicherheitsmanagement.

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