Folgt auf die Aufklärung die Finsternis? Alt Bundesrat Joseph Deiss zeichnet ein düsteres Bild der Zukunft. In seinem neuen Buch «Ruptures» – soeben auch auf Deutsch, «Brüche», erschienen – richtet er einen dringenden Appell zur Umkehr. Auch die Schweiz fordert er dazu auf.
«Stehen wir an der Schwelle zu einem grossen Bruch, der uns nach der Aufklärung dieses Mal in die Richtung der Finsternis führt?». Nichts Geringeres treibt alt Bundesrat Joseph Deiss um. In seinem neuen Buch «Brüche» (französischer Titel: «Ruptures») fragt er nach dem Zustand der Welt, wie sie sich in den zweieinhalb Jahrhunderten seit der Aufklärung entwickelt hat und welche Brüche in der Entwicklung sich neuerdings auftun – demografisch, technologisch, ökonomisch, ökologisch, institutionell und bezüglich Werten und Menschenrechten.
Alt Bundesrat Deiss stellt sich den grossen Fragen, er blickt zurück und zeichnet die aussergewöhnliche Dynamik der Entwicklungen kenntnisreich nach. Eine Welt der unbegrenzten Möglichkeiten sei entstanden, eine Mischung von fantastischen, aber auch von furchterregenden Dynamiken.
Die Weltbevölkerung hat sich in den letzten 500 Jahren vervielfacht, nachdem sie sich vorher während Jahrhunderten und gar Jahrtausenden wenig verändert hatte. In immer schnellerem Tempo nahm sie zu. Von 500 Millionen bis zur ersten Milliarde der Weltbevölkerung dauerte es von 1500 bis 1800 noch 300 Jahre. Bis zur nächsten Verdoppelung auf zwei Milliarden verstrichen noch 130 Jahre und zur nächsten auf vier Milliarden im Jahre 1975 nur noch 45 Jahre. Die jüngste Verdoppelung auf 8 Milliarden im 2020 dauerte nochmals nur 45 Jahre.
Noch rasanter verlief die wirtschaftliche Entwicklung. Während sich die Weltbevölkerung seit 1750 um den Faktor 72 vermehrt hat, ist das weltweite Bruttoinlandprodukt in der gleichen Zeit gar um den Faktor 1000 – also 30mal schneller gestiegen. Die Differenz betrage gerade so viel wie sie zwischen dem Eiffelturm in Paris und dem Mount Everest bestehe, stellt Deiss einen ungewöhnlichen bildhaften Vergleich an. Er gibt aber auch zu bedenken, dass nicht nur der Reichtum gewachsen ist, sondern parallel dazu auch die Zahl der von Armut betroffenen Menschen.
Auch technologisch sind die Veränderungen grandios, aber ebenso schauerlich: «Die Geschichte zeigt, dass es das neue Wissen war, das die tiefgreifenden kulturellen Revolutionen (Schrift, Buchdruck, Internet) ebenso ermöglichte wie die großen industriellen Revolutionen (Dampfmaschine, Explosionsmotoren, Elektrizität, Computer, dreidimensionale Drucker), aber auch die schlimmsten Kriege und Massaker.»
Und wie die demografischen, technologischen und wirtschaftlichen «Brüche» um 1750 ihren Beginn nahmen, so sei es auch mit der Erderwärmung. Die Aktivitäten der Menschen stören seither das Gleichgewicht zwischen der Energie, die der Planet empfängt und die er wieder abgibt. Die Menschen würden ihren Planeten erschöpfen, zu viel konsumieren und mittelfristig den Ast absägen, auf dem sie sitzen.
Auch das internationale Recht und der Multilateralismus seien inspiriert vom Geist der Aufklärung. Die Geschichte verlief zwar wechselhaft und war geprägt durch Rückschläge. Es hatte sich aber die Einsicht durchgesetzt, dass Kriege nicht zum Frieden führen. Die UNO wurde gegründet, die Erklärung der Menschenrechte und die Genfer Konventionen über das humanitäre Völkerrecht verabschiedet, ein weitverzweigtes Netz von UNO-Sonderorganisationen geschaffen. Doch es folgten die grossen Rückschläge. Staaten hielten sich nicht an die Beschlüsse, für die sie selber gestimmt hatten – in Syrien, in der Ukraine, im Nahen Osten, aber auch in den USA, die ihr nationales Recht über das internationale Recht setzen.
Hinzu komme der moralische Bruch. Während mehr als 50 Jahren habe die Beachtung der Menschenrechte grosse Fortschritte gemacht – institutionell bis zur Schaffung des UNO-Menschenrechtsrates, aber auch in der Realität vieler Länder. Doch die Krisen und Kriege in neuster Zeit zeigten, wie fragil die erzielten Fortschritte seien.
Schonungslos legt Joseph Deiss die Trends globaler Entwicklungen offen. Es ist keine Schwarzmalerei, denn seine Analysen stützt er auf Fakten ab. Wohin die Trends führen, ist noch offen. Deiss fragt sich aber: «Ist der moderne Mensch wie ein verwöhntes Kind, das seines Spielzeugs überdrüssig ist und dem nur noch ein einziger, letzter Rausch bleibt, nämlich den, es zu zerstören?». Deiss will es nicht wahrhaben und meint schon fast zum Trotz: Es gäbe «Gründe zur Hoffnung». Es gelte vom Frieden zu reden, immer und immer wieder, ihn zu proklamieren, zu lehren, zu singen, dafür zu beten. Es ist ein Plädoyer zur Umkehr, ein Weckruf, der Gehör verdient. Es ist aber weder Rezept noch ein Plan, wie Frieden wieder gewonnen werden kann.
Zur Schweiz äussert sich alt Bundesrat Deiss in «Brüche» («Ruptures») nur wenig, aber äusserst kritisch. Im Nahost-Konflikt wirft er ihr «doppelte Standards» vor. Es sei nicht zu rechtfertigen, mit der Kürzung der Gelder ans palästinensische Flüchtlingshilfswerks UNRWA Hunderttausende palästinensischer Flüchtlinge kollektiv zu bestrafen, weil einzelne UNRWA-Mitglieder am terroristischen Überfall der Hamas vom 7. Oktober 2023 beteiligt gewesen waren. Deiss kritisiert auch die militärische Zusammenarbeit mit Israel und die Stimmenthaltung der Schweiz in der Abstimmung für die UNO-Vollmitgliedschaft Palästinas.
Er wendet sich auch gegen die Distanzierung der Schweiz vom Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zugunsten der Klimaseniorinnen und gegen das Nein des Bundesrates zum Atomsperrvertrag. Damit werde letztlich der Gebrauch von Atomwaffen gerechtfertigt, was im Widerspruch zum Schutz der Zivilbevölkerung stehe, der in den Genfer Konventionen verankert ist.
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