Themen der Woche: Gaza, Sudan, Veto, Syrien, Libanon, Libyen ICC, Myanmar, Haiti, Ukraine
Gaza: Zum zweiten Mal haben die 10 nichtständigen Mitglieder (E 10 – elected ten) mit einem gemeinsam ausgehandelten Resolutionstext versucht, dem Rat eine Stimme zum Krieg im Gazastreifen zu verleihen. Die Resolution wurde mit 14 Ja Stimmen angenommen, scheiterte indessen am Veto der USA. Kern des Texts war die Doppelforderung nach sofortigem, bedingungslosem und dauerhaftem Waffenstillstand zum einen und die Freilassung der rund 100 israelischen Geiseln in der Hand der Hamas zum andern. Die USA machten geltend, damit würde Hamas signalisiert, es sei “nicht mehr nötig, an den Verhandlungstisch zurückzukehren”. Algerien erklärte, mit dem Scheitern der Resolution gebe der Rat Israel das Signal, “mit seinem Genozid weiterzumachen”. Der Text verwahrte sich gegen alle Versuche, “Palästinenser auszuhungern”, forderte vollen Zugang der Gaza-Zivilbevölkerung zu Grundbedürfnissen und bezeichnete die von Israel blockierte UNO-Organisation für Palästinaflüchtlinge (UNRWA) als “Rückgrat” der humanitären Versorgung. Nach der Sitzung traten die E 10 – darunter die Schweiz als co-rédactrice – gemeinsam vor das UNO-Mikrophon am Saaleingang und bekundeten Willen zum Weitermachen: Our collective efforts to end the hostilities will not stop.In einer vorgängigen Nahost-Debatte hatte der UNO-Sonderkoordinator ein weiteres Mal vor einem Ausgreifen des Konflikts auf die gesamte Region, vor nochmals schlechteren Lebensbedingungen in Gaza und vor “beunruhigender Missachtung des humanitären Völkerrechts” gewarnt. Die Schweiz, vertreten durch Bundesrat Cassis, mahnte Israel an seine Pflicht als Besatzerstaat, die Grundbedürfnisse der Zivilbevölkerung zu befriedigen. Die von der Knesset erlassenen Anti-UNRWA-Gesetze seien “problematisch”, parce qu’elles sont en grande partie incompatibles avec le droit international et parce qu’elles menacent aussi l’assistance humanitaire apportée à la population civile.
Sudan: Eine von Grossbritannien und Sierra Leone ausgehandelte Resolution für eine Kriegspause, für ungehinderten Zugang zu den Millionen notleidender Zivilisten und für die Aufnahme von Waffenstillstandsverhandlungen ist am Veto Russlands gescheitert. Die übrigen 14 Ratsmitglieder – darunter die Schweiz – stimmten zu. Russland behauptete, die Briten hätten “postkoloniale Ideen zur Zukunft des Landes” in den Text platziert und der sudanesischen Diaspora in Grossbritannien zugedient. Zudem würden “externe Mechanismus” zur Aburteilung von Kriegsverbrechen eingeführt (gemeint ist der Internationale Strafgerichtshof). Im Sudan bekriegen sich die herrschende Militärregierung und die abtrünnigen, aus den arabischstämmigen Janjaweed-Milizen entstandenen Rapid Support Forces in einem Krieg, der die derzeit grösste humanitäre Katastrophe ausgelöst hat. Die Schweiz erklärte nach der Abstimmung, der Schutz der Zivilbevölkerung sei “keine Wahl, sondern Pflicht”.
Das Problem mit dem Veto: Nach jedem Veto im Sicherheitsrat führt die Generalversammlung (193 Mitgliedsstaaten – “ein Land, eine Stimme”) eine Debatte zum Thema. Dass in der Berichtswoche gleich zwei klare Ratsentscheide durch Vetos blockiert wurden (USA zu Gaza, Russland zu Sudan) provozierte heftige Vorwürfe und Forderungen nach Reform. Liechtenstein erklärte, ein Veto sei nicht mehr ein Endpunkt in der politischen Auseinandersetzung. Die Generalversammlung solle eigene “Handlungsoptionen” erwägen. Die Schweiz sagte, seit ihrer Einsitznahme im Sicherheitsrat sei das Veto zwölf Mal eingelegt worden, “und jedes Mal sahen wir, dass die Lage sich in der Folge verschlimmerte”. Sie wiederholte ihre Forderung nach freiwilligem Verzicht in Fällen von Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen.
Syrien: Im monatlichen Lagebericht wiederholten die UNO-Vertreter, was sie seit Jahren sagen: “aktiver Kriegszustand”, ausländische Interventionen (Türkei, Israel, USA), Aktivitäten islamistischer Gewalttäter. Eine halbe Million Flüchtlinge aus dem Libanonkrieg verschärft die Not. Ein inner-syrischer Aussöhnungsprozess bleibt blockiert. Die Schweiz wünscht einen Waffenstillstand und die Wiederaufnahme der Verhandlungen im syrischen Verfassungskomitee, das bis zum russischen Überfall auf die Ukraine in Genf zusammengetroffen war (Russland und die syrische Regierung blockieren, weil die Schweiz sich den europäischen Sanktionen gegen Russland anschliesst). Die Schweiz betonte die Notwendigkeit von Nachforschungen über die Verschollenen, was Gelegenheit bot, die dazu geschaffene, in Genf angesiedelte spezialisierte UNO-Institution ins Bild zu rücken.
Libanon: In geschlossener Sitzung hat der Rat sich über die Handlungsmöglichkeiten der UNO-Blauhelmtruppe UNIFIL im Krieg zwischen Israel und der libanesischen Hisbollah-Miliz unterrichten lassen.
Myanmar: In geschlossener Sitzung hat der Rat sich mit der Vereinigung südostasiatischer Nationen (ASEAN) ausgetauscht.
Haiti: Der “Übergangspräsidialrat” fordert, die vom Rat autorisierte, schmalbrüstige Multinational Security Support Mission in eine UNO-Blauhelmtruppe umzuwandeln. Das Begehren stiess in der Debatte auf gemischtes Echo. Allgemein war man sich einig, dass die von Kenia geführte Support Mission untauglich ist, um der um sich greifenden Herrschaft der gangs Meister zu werden. Diese haben nach Angaben des zuständigen UNO-Beamten 85 Prozent der Hauptstadt Port-au-Prince im Griff, und weil es an staatlicher Autorität fehlt, übt die Bevölkerung Selbstjustiz. Die Support Mission verfüge statt der bewilligten 2500 nur über 413 boots on the ground, erklärte die Vertreterin Kenias. Für mehr fehle es an Mitteln. Mehrere Ratsmitglieder, darunter China und Russland, machten geltend, eine friedenserhaltende UNO-Mission habe keinen Sinn, da es keinen Frieden gebe, der erhalten werden könnte. Die Schweiz sagte, sie sei “offen”, die Frage zu prüfen, aber toutefois, il faut une paix à maintenir, ce qui passe également par la perspective d’un avenir politique stable.
Libyen und das Strafgericht: Der Ankläger des Internationalen Strafgerichtshof (ICC – International Criminal Court) hat Bericht über den Fortschritt im Libyen-Dossier erstattet. Bis Ende 2025 will er die Ermittlungen zu den Kriegsverbrechen in den Jahren 2014-2020 abschliessen. Sechs Haftbefehle im Zusammenhang mit Massengräbern in der Stadt Tahuna sind ausgestellt und sollten jetzt in den betroffenen Staaten vollstreckt werden. Die Bereitschaft dazu ist nicht überall gleich gross. Algerien mäkelte, der ICC dürfe der libyschen Justiz auf keinen Fall vorgreifen. China warnte vor “politischer Einflussnahme”. Russland nannte den ICC ein “Pseudogericht”, das nicht ernst zu nehmen sei. Die Schweiz stellte sich voll hinter das Gericht und rief alle Staaten auf, seine Arbeit nicht zu behindern. Zur Lage in Libyen warnte sie zum wiederholten Mal vor einer Verengung des “zivilen Spielraums”, der nicht nur Organisationen betreffe, sondern auch Millionen von Frauen und Mädchen. Gemeinsam mit Japan und den anderen Ratsmitgliedern, die das ICC-Status unterschrieben haben, trat die Schweiz am UNO-Mikrophon vor dem Saaleingang mit einer vehementen Unterstützung des Strafgerichts auf.
Ukraine: Der 1000. Tag seit dem russischen Angriff auf die Ukraine wurde mit einer Debatte begangen, welche entlang der bekannten politischen Fronten verlief. Die USA und die europäischen Ratsmitglieder warnten, ein Erfolg Russlands werde “die Prinzipien der UNO-Charta bedeutungslos machen” (Grossbritannien) und den Appetit auf ähnliches Vorgehen anregen. “Ukraine heute kann Ostasien morgen sein”, sagte der Vertreter Japans. Die Schweiz, vertreten durch Bundesrat Cassis, erinnerte an ihre Friedenskonferenz auf dem Bürgenstock und versicherte, sie arbeite “ohne nachzulassen” an einer Fortsetzung, “bis zu einer diplomatischen Lösung”. Die Ukraine, flankiert von der Europäischen Union und 44 Staaten verlas am UNO-Mikrophon eine gemeinsame Erklärung, welche die russischen Annexionen verurteilt und einen Frieden gemäss UNO-Charta verlangt. Der Bürgenstock-Gipfel “und die folgenden Aktivitäten” werden in diesem Zusammenhang gewürdigt. Von den 44 beteiligten Staaten waren 5 nicht traditionell westliche: Ecuador, Marshall Islands, Mikronesien, Palau und Paraguay.
Kurz und Kräftig. Die wöchentliche Dosis Aussenpolitik von foraus, der SGA und Caritas. In der Ausgabe Nr. 466, November 2024, steht die Migrationsvereinbarung der EU mit Tunesien im Fokus. Zahlreiche Flüchtlinge sind unmenschlichen Bedingungen und Abschiebungen in Wüstengebiete ausgesetzt, was zu Spannungen auf der geopolitischen Ebene führt. Espresso Nr. 466 | 19.11.2024
Neue Beiträge von Joëlle Kuntz (La neutralité, le monument aux Suisses jamais morts) sowie von Martin Dahinden und Peter Hug (Sicherheitspolitik der Schweiz neu denken - aber wie?)
Livre (F), Book (E), Buch (D)
Das Schweizer Mandat im UNO-Sicherheitsrat (2023 und 2024) fällt in turbulente Zeiten, der Rat hat Schwierigkeiten, in den grossen Fragen Entscheide zu fällen. Jeden Samstag fassen wir das Ratsgeschehen und die Haltung der Schweiz zusammen.
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